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(ID: 285323)

Lemur – eine gefährdete Spezies?

Vielleicht ist es ganz hilfreich, sich die Entstehung des Wortes “Lemur” einmal ein wenig genauer anzusehen:

  • Lemures (sg. lemur, meist aber im Plural verwendet) waren in der römischen Religion die Geister von Verstorbenen.
  • Die als Lemuren bezeichneten Feuchtnasenaffen erhielten ihren von den lemures abgeleiteten Namen Lemuriformes wegen ihrer oft nächtlichen Lebensweise und ihres dank der großen Augen markanten Gesichts.
  • Der Lemur genannte Touchscreen Controller bezog sich in grafischen Spielereien gerne auf die Affen aus Madagaskar. Warum allerdings dieser für ein technisches Gerät ungewöhnlicher Name gewählt wurde, habe ich in keinem Interview oder ähnlichen Informationen gefunden.

Vielleicht fanden die Jungs von Jazzmutant die Äffchen einfach süß und sympathisch. Vielleicht wollten sie mit dem Namen aber auch auf den endemischen Charakter ihres Gerätes verweisen, da sie wohl schon ahnten, dass es nie eine hohe Verbreitungsquote haben wird. Oder sollte es gar eine Anspielung auf die Geister der Toten sein – frei nach dem Motto, dies wird sich nicht lange am Markt halten, wir wollen nur mal zeigen, dass das gehen würde. Wahrscheinlich spielt alles ein wenig mit rein und – self fullfilling prophecy hin oder her – hat sich ja dann auch bewahrheitet.

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Den ersten Tod starb der Lemur als im Dezember 2011 die Firma Jazzmutant das Gerät einstellte (nach gerade mal 6 Jahren Produktion). Das war aber eigentlich nachvollziehbar, denn mittlerweile hatten sich (innerhalb weniger Jahre!) kapazitive Tablets durchgesetzt, die den alten schweren, dicken, resistiven Hardwarelemur nicht nur alt, sondern wahrlich wie einen Dinosaurier aussehen ließen. An eine Hardwarelösung war also für die kleine französische Firma nicht mehr zu denken. Statt dessen wollten sie das Wissen was sie mit dem Lemur erworben haben jetzt im industriellen Kontext unter dem Brand “Stantum” anwenden (Naja, die Firma hatte eine noch kürzere Halbwertszeit und existiert wohl auch nicht mehr…). Aber hier zeigte sich, dass der Hardware-Lemur nun obsolet war. Dies dürfte auch eigentlich niemanden wundern, da dies oft der Weg ist, den “early adopters” gehen. Außerdem hatte Jazzmutant dies mehr als ein Jahr zuvor angekündigt und auf die letzte Charge auch einen Preisnachlass von 25% gewährt (siehe: http://cdm.link/2010/11/jazzmutant-lemur-controller-is-dead-long-live-multitouch/). Trotzdem waren alle froh, als just im Dezember 2011 die Firma “Liine” den Lemur als iOS App rausgebracht haben. Denn – dankenswerter Weise – gingen deren Daemon und Editor (die beiden notwendigen Programme) auch für den Hardware Lemur. Zwar gab es da immer wieder bugs (z.B. wurden endless Encoder beim Transfer plötzlich zu einfachen Encodern), aber im Großen und Ganzen eine faire Sache, die den Hardware-Lemurianern das Leben nochmal verlängerte.

Allgemein hat die Firma Liine zunächst einiges in den Lemur investiert. Man versuchte einen in-app editor, der aber wirklich bescheiden ist. Man brachte den Lemur zusätzlich als Android App heraus. Man ergänzte die Objekte, vor allem um das frei programmierbare Canvas, aber auch um sogenannte Sequencer-Objekte, die endlich tighte Sequencer direkt auf dem Lemur erlaubten. Man machte Videos und eine riesige User-Datenbank. Man stellte immer wieder ausgesuchte Module vor.

Hier ein Video das z.B. den Lemur als direkten Sequencer (ohne Computer!) für ein Modularsystem zeigt (“Endorphin:es & Liine Lemur deep sequencing @ ADE 2016”):

https://youtu.be/tHqfBeLP5Qk

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Bei den Tutorials und in der Dokumentation wurde aber in alter Jazzmutant-Manier geschlampt – da kam zu wenig. Die bugs, die die Software vor allem auf Windows-Rechnern öfter zum Abstürzen brachte (wohlgemerkt, den Editor, die eigentliche App lief immer stabil), bekam man auch nicht wirklich in den Griff.

Im Februar 2018 gab es wohl das letzte Update. Dabei muss – da alle Quellen gelöscht sind, lässt sich das nur anhand der Aussagen Dritter aus Fremdforen nachvollziehen – wohl irgendwas mit dem neuen iOS schief gegangen sein. Danach wird es wohl wieder einen kleinen Motzsturm im Forum gegeben haben (vermutlich). Auf jeden Fall wurde das offizielle Forum abgeschaltet. Seit dem ist Ruhe. Totenstille. Anfragen an den support gehen zwar raus, es gibt aber keine Antworten mehr. Die webseite war als ich mit diesem Artikel begonnen habe noch da und die Interfaces in der User-Area lassen sich auch noch downloaden und auch die App existiert noch im App-Store. Die beiden notwendigen Programme (Daemon und Editor) lassen sich ebenso von der Webseite runterladen. Nur für das Nutzerhandbuch müsste man sich eigentlich anmelden (was als neuer Nutzer eben nicht geht, da der support tot ist und man so keinen Nutzernamen und Passwort bekommt), es geht aber auch, die PDFs per rechtsklick und “Ziel speichern unter” ohne Anmeldung zu ziehen.

Das Vorgehen von Liine als unprofessionell zu bezeichnen wäre hier viel zu höflich. Das Forum einfach zu schließen ist eine Frechheit. Der Austausch ist bei diesem Tool so wichtig und wurde von den Foristen ohne großes Zutun von Liine gerne und gut selbst erledigt. Die jahrelange Arbeit und Dokumentation der Foristen so einfach zu löschen ist mehr als unfair. (Mittlerweile hat ein Nutzer privat ein neues Lemur Forum aufgemacht, in dem auch schon einiges gepostet wurde: http://lemur.boards.net/ – vielen Dank und Respekt dafür!) Dass Liine die App noch verkauft, wenn kein Support mehr da ist, ist streng genommen Betrug. Das hat sich auch deutlich auf die Bewertung der App niedergeschlagen. Als Sahnehäubchen gibt es bei Facebook wohl noch einen Lemur-Mitarbeiter der fleißig postet und Durchhalteparolen verteilt, aber sich halt nicht um support Anfragen kümmert… (siehe https://de-de.facebook.com/LemurApp/) In meiner Fantasie war es ein tragische Unglück a la Buddy Holly: Alle Liine Mitarbeiter (außer dem Facebook-Heini, der bestimmt nur der Hausmeister war) saßen in einem kleinen Flugzeug das leider abgestürzt ist, deswegen ist jetzt alles tot. :/

Die Wahrheit sieht wahrscheinlich anders aus: Wenn man davon ausgeht, dass vielleicht maximal 10000 Einheiten der App verkauft wurden, so wären das ca 250000 Euro. Was erstmal viel klingt, aber ziehen wir davon noch die Gebühren des App-Stores ab, bleiben wahrscheinlich nicht mehr als 200000,- Einnahmen. Geteilt durch 8 Jahre am Markt = 25000 Euro pro Jahr (vor Steuer!). Selbst für eine Person also kein Fulltime-Job. Und das bei einer Software dieser Komplexität, die auf mehreren Betriebssystemen laufen soll und auch in der Schnittstelle zwischen diesen und mehreren Musikanwendungen agiert. Wahrscheinlich ist Liine also einfach pleite. Aus Frust und Verzweiflung dann einfach das Forum abzuschalten und sich selbst tot zu stellen ist menschlich nachvollziehbar, aber trotzdem nicht die feine Art. Wahrscheinlich wird irgendwann demnächst die App einfach aus den Stores verschwinden. Beschwerden wird es nicht geben – man hat ja mit dem Forum bereits die Community getötet. Die Fachpresse hält interessanter Weise still – der Lemur wird einfach nicht erwähnt. (Wobei das vorher auch schon so war, so taucht der Lemur bisher auf Amazona.de auch nur in einem Nebensatz auf. Und auch in der anderen Fachpresse gab es wenig Berichte darüber und das bei einem Konzept mit so einem potentiellen Impakt. Warum? Weiß ich nicht…) Und das war es dann… Somit ist im Moment tatsächlich die letzte Möglichkeit, sich die App zu holen und zumindest auf bestehenden Systemen zum Laufen zu bringen. Zukunftssicherheit bei OS Updates gibt es halt nicht. Eine Alternative zum Lemur aber auch nicht. Stirbt der Lemur, wird der selbstgebaute Touchscreen Controller um Jahrzehnte zurückgeworfen.

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Forum
  1. Profilbild
    Markus Schroeder RED

    Wow, super Artikel, congrats und Danke!
    Ich hab immer gesagt Liine Lemur ist _der_ Grund sich ein iPad zu kaufen, aber wie Du sagt, Liine haben anscheinend kein interesse mehr daran oder was auch immer.

    Sehr, sehr schade.

    • Profilbild
      tonvibration

      @Markus Schroeder Ja Danke und gern geschehen. Der Artikel war mir eine Herzensangelegenheit. Nur schade, dass er jetzt unter diesen Umständen veröffentlicht werden muss…
      Das iPad hat bei Musiksachen schon Vorteile – z.B. wegen der großen Anzahl an Musik Apps allgemein oder dem günstigen aber gut funktionierenden MIDI Adapter. Bei Neuanschaffung tut es aber auch ein Android Tablet, das nunmal viel günstiger ist.

  2. Profilbild
    AMAZONA Archiv

    Wirklich ein sehr informativer Artikel. Habe gleich Lust bekommen, die App zu laden, werde aber lieber die Finger davon lassen.
    Ich habe gerade geguckt, was man bei Archive.org noch in Bezug auf das größtenteils abgeschaltete Forum findet. Dort gibt es einen Snapshot vom Januar, der genutzt werden kann, um die Library zu durchsuschen. Damit lassen sich auch die entsprechenden Downloadlinks finden, die auch noch funktionieren.
    Hier die Adresse des Snapshots: http://web.....r-library/

    • Profilbild
      tonvibration

      Der Snapshot ist super! Danke für den Tipp. Dadurch sieht man nämlich auch wieder die Bilder zu den User Interfaces – was eine große Hilfe bei der Fülle an Interfaces ist.
      Leider hat Liine ja just an diesem Wochenende (13.-14.4.19) angefangen die Homepage zu löschen: Zunächst natürlich alles unter Company (damit die User schnell vergessen, wer es war?), aber auch den Premium Content (extra vorgestellte Module von hoher Qualität) und eben Bilder und Suchfunktionen (tags wurden wohl gelöscht) in der User Library. Die Module selbst sind aber noch da.
      Den Gedanken, sich so eine App besser nicht mehr zuzulegen, kann ich gut verstehen. Auf der anderen Seite, dann nicht traurig sein, wenn es die plötzlich nicht mehr gibt und auf absehbare Zeit nichts Vergleichbares kommt. Ist ne doofe Situation….

      • Profilbild
        AMAZONA Archiv

        @tonvibration Also ich habe mir leider letzte Woche die LemurApp fürs iPad gekauft, nur um jetzt festzustellen, das die App wohl am Ende ist. Dabei habe ich mir das iPad (günstig gebraucht) in erster Linie für diesen Zweck zugelegt. Da bin ich echt grad etwas verärgert jetzt…. Schade , wollte eigentlich mit Lemur richtig loslegen, aber nun habe ich da keinen richtigen Bock mehr drauf mich da einzuarbeiten, obwohl der Bericht toll geschrieben ist und voll Lust auf den Lemur macht. Alternativen gibt es ja nicht so wirklich, also bleibt zu hoffen, das die LemurApp vielleicht doch noch am Leben erhalten wird….

        • Profilbild
          Soundreverend AHU

          Also ich meine ja Du kannst die App wieder „zurückgeben“, das geht irgendwo im App Store, habe ich schon einmal gemacht bei einer teuren App mit der ich wirklich unzufrieden war und es war kein Problem. Geld wird zurück-überwiesen und gut ist…

        • Profilbild
          tonvibration

          Rückgabe wäre eine Möglichkeit….oder…da Du das iPad und die App eh schon hast… Du sicherst Dir jetzt(!) alles Notwendige.
          Das Manual bietet einen guten Einstieg, auch zum Scripting. Zur Einrichtung gibt es auch noch jede Menge Videos und Tutorials auf YouTube. In dem neuen Forum habe ich auch ne Liste mit Links zu Modulen gemacht.

          Dass man als Neukunde da verärgert ist, ist klar. Als jemand der viel Zeit investiert hat, wie ich, ist es auch nicht besser… Aber Assi-Verhalten von Liine hin oder her, morgen ist es vielleicht weg. Auf Dauer. Da bin ich eher froh, dass ich es auf vielen Geräten habe.

  3. Profilbild
    DefSteph

    Lemur wurde Ende Oktober 2019 upgedated. Ich habe mir das jetzt für Android besorgt und bin jetzt schon begeistert. 24 € sind ein witz dafür.

    Guter Artikel by the way!!!

    • Profilbild
      tonvibration

      @DefSteph Danke für das Update. Ja, irgendwie gibt es den Lemur wieder, was mich auch sehr freut. Die Art einfach mal ein halbes Jahr abzutauchen und die User im Regen stehen zu lassen hat die Community allerdings nachhaltig beschädigt und ne Menge Vertrauen gekostet…
      Anyway: Ja, für 24 Euro ein Schnäppchen, dafür was der Lemur alles kann. Lege die App trotz aller Ärgernisse also jedem Controller- Begeisterten ans Herz.

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