"Niemand sollte sich eine reine Tonfolge schützen lassen können"
Und wieder einmal möchten wir euch einen Bericht aus dem Synmag-Magazin empfehlen, der sicher für einige Diskussionen führen wird. Geschrieben wurde dieser Beitrag von Nicolay Ketterer, der ein interessantes Gespräch mit Damien Riehl führte:
„Niemand sollte sich eine reine Tonfolge schützen lassen können“
Akkordfolgen sind in der Musik frei verwendbar, Melodien nicht: Der amerikanische Anwalt Damien Riehl will das ändern. Schließlich sei es möglich, zufällig auf ein ähnliches Ergebnis zu kommen und gleiche Töne können in einem anderen Kontext völlig unterschiedlich wirken. Riehl hat zusammen mit dem Programmierer Noah Rubin das Projekt „All the Music“ ins Leben gerufen und rechnerisch bislang 200 Milliarden Melodien generiert. Das Ergebnis haben die beiden mit dem Verzicht auf Rechtsansprüche freigegeben. Eine theoretische Folge: Jede mögliche Melodie wurde bereits komponiert, daher könnte sie niemand mehr schützen lassen. Oder? Das Projekt existiert nicht zuletzt, um auf Zwiespälte beim Urheberrecht aufmerksam zu machen.
Die westliche Tonleiter bietet nur zwölf unterschiedliche Töne pro Oktave – trotzdem sind Milliarden Melodien möglich. Wir alle stünden auf der viel zitierten „Schulter von Giganten“, so lässt sich die Argumentation des amerikanischen Anwalts Damien Riehl zusammenfassen: Demnach sollte keiner ein Monopol für eine reine Tonfolge beanspruchen können, unabhängig von der Gesamtgestaltung eines Stücks. Akkordfolgen sind aufgrund ihrer übersichtlichen Kombinationsmöglichkeiten frei verwendbar, für Tonfolgen gilt das nicht. Was immer wieder zu Rechtsstreitigkeiten führt. Dem wollte Damien Riehl mit dem Projekt „All The Music“, das er gemeinsam mit dem Programmierer Noah Rubin auf die Beine gestellt hat, ein Experiment entgegensetzen: Die beiden haben durch Algorithmen mittlerweile 200 Milliarden Melodien generiert und unter der „Creative Commons Zero“-Lizenz zur Nutzung freigegeben.
Gleichzeitig verzichten sie auf jegliche Rechtsansprüche. Der Gedanke: Theoretisch könnte nun niemand mehr eine „neue Melodie“ für sich urheberrechtlich beanspruchen, weil sie bereits existiert – und jeder könnte die Melodien nutzen. Ob das rechtlich anerkannt wird, steht noch auf einem anderen Blatt. Riehl geht es vor allem darum, für Probleme beim Urheberrecht zu sensibilisieren – ein Gespräch.
Nicolay:
Die Idee des gemeinsamen Projekts hattest du 2019 ursprünglich angestoßen, um mit Ungerechtigkeiten im Urheberrecht aufräumen zu können?
Damien:
Richtig. Mir scheint, dass die musikalische Ausbildung in den Vereinigten Staaten – vielleicht auch weltweit – reduziert wurde. Dadurch kennen sich weniger Menschen damit aus, wie Musik funktioniert: mit Skalen, Harmonien und der Entstehung von Kompositionen. Aus dem Grund kennen in einem Urheberrechtsprozess weniger Leute in der Jury – und weniger Richter – den Unterschied zwischen „ich habe dich kopiert“ und „ich habe unabsichtlich dieselbe Melodie verwendet“. Mit dem Projekt wollte ich Menschen, die nicht musikalisch geschult sind, dafür sensibilisieren, wie leicht es passieren kann, zufällig dieselbe Melodie wie jemand anderes zu verwenden. Ursprünglich ging es mir darum, einen Fachartikel für Anwälte und Richter zu schreiben, um über das Problem zu informieren. Dann kam das Angebot, einen TEDx-Talk zu halten – das hat das Publikum erweitert. Es ist nicht schwer, zufällig in einen Konflikt zu geraten, schließlich existieren nur zwölf Töne!
„Es ist nicht schwer, zufällig in einen Urheberrechtskonflikt zu geraten – schließlich existieren nur zwölf Töne!“
Nicolay:
Als ein Beispiel für zufällig gleiche Melodien führst du den Fall von George Harrison an, dessen Melodie des 1973er Stücks „My Sweet Lord“ später als zufälliges Plagiat des 1962 von den Chiffons aufgenommenen Songs „He’s so Fine“ gewertet wurde. Du hattest geschrieben, ein Musiker könne vor Gericht nicht beweisen, einen anderen Song nie vorher gehört zu haben – und damit eine ähnliche Idee gehabt zu haben, ohne zu plagiieren. Man würde davon ausgehen, dass derjenige das Stück unterbewusst irgendwo im Bus mal gehört haben könnte.
Damien:
Stimmt! Zu beweisen, dass du einen Song nie vorher gehört hast, ist unmöglich. Philosophisch gesehen lässt sich eine Negation nicht beweisen. Auf der anderen Seite: Fast keine Gerichtsprozesse erfordern von jemandem, eine Negation zu beweisen! Vielmehr ist es umgekehrt: Verklagt jemand eine andere Person, obliegt dem Kläger die Beweislast, dass der Beklagte die Straftat auch tatsächlich begangen hat. Es geht nicht darum, zuerst die eigene Unschuld beweisen zu müssen. Was den George-Harrison-Fall angeht – dort wurde die Beweislast umgekehrt und dem Beklagten die Bürde auferlegt, wo sie nicht hingehört. Mein primäres Ziel bestand darin, die Beweislast wieder auf die Seite zu bringen, wo sie auch bei jedem anderen Gerichtsprozess liegt. Die Frage, die sich aufdrängt: Wie lässt sich beweisen, ob Person B einen Song von Person A gehört und kopiert hat? Es existieren jede Menge forensischer Beweise: Falls die Person Musik auf Spotify hört, existieren dort Playlisten. Der Kläger könnte anfordern, alle Songs einzusehen, die die Person auf Spotify in den letzten fünf Jahren gehört hat – oder alle YouTube-Videos, die in dem Zeitraum gesehen wurden. Während dem Prozess lässt sich ein positiver Beweis erbringen, ohne dazu überzugehen, dass der Angeklagte die Negation beweisen muss.
Nicolay:
Was den Beweis der Negation angeht: Die Vorgehensweise erinnert – überspitzt formuliert – fast an Verschwörungstheorien, wo mitunter das Fehlen eines Beweises als Beweis gilt.
Damien:
Das ist genau der Punkt! So gesehen sind Urheberrechtsfälle genau wie alle anderen Fälle auch. Der Vorsatz spielt eine Rolle, ob Person B den Urheberrechtsverstoß absichtlich begangen hat. Wenn wir beide auf einer Klippe stehen und du fällst herunter, macht es einen Unterschied, ob ich dich dabei versehentlich angerempelt oder bewusst gestoßen habe! Das Ergebnis ist dasselbe, aber der Vorsatz macht den Unterschied. Im Urheberrechtsfall: Hat Person B den Song absichtlich plagiiert oder schlicht zufällig einen Song geschrieben, ohne jemals von Person A gehört zu haben? Die Gleichheit ist nicht so ausschlaggebend wie der Vorsatz. Ich wollte versuchen, gleiche Bedingungen zu schaffen: Person A sollte, wie in jedem anderen Fall, Vorsatz nachweisen müssen.
Nicolay:
Wie viele Milliarden Melodien habt ihr mittlerweile kreiert?
Damien:
Zum Zeitpunkt des TEDx-Talks waren es 68 Milliarden, mit Notenfolgen aus zehn Noten. Seitdem haben wir viel mehr Datensätze prozessiert und stehen aktuell bei 200 Milliarden Melodien. Die Noten erstrecken sich über eine Oktave. Mittlerweile haben wir auch eine Quint darüber und darunter hinzugenommen. Die Notenfolge aus den zehn Noten kannst du als Viertel, Achtel, Halbe sehen – wie immer du magst. Wir haben inzwischen auch Rhythmus in den MIDI-Files mit eingebunden sowie Stille als mögliche Note in den Generator mit eingebracht: Stille verändert aus MIDI-Sicht praktisch die Länge der vorangehenden Note.
Nicolay:
Das stellt einen deiner zentralen Punkte dar; Rhythmik macht bislang keinen Unterschied im Urheberrecht. Das heißt, wenn du eine bereits vorhandene Melodie schreibst, deren einzelne Notenlängen sich von dieser anderen komplett unterscheiden, wäre die trotzdem „einklagbar“ als Plagiat?
Damien:
Richtig! Das Gesetz erfordert lediglich „substanzielle Ähnlichkeit“. Die Frage ist also, ob bei zwei Songs jenes substanzielle Maß an Ähnlichkeit vorliegt. Wie der Fall von George Harrison zeigte – obwohl der Rhythmus ein anderer war, lag substanzielle Ähnlichkeit vor. Auch wenn vielleicht ein, zwei oder fünf Töne der Melodie anders sind, liegt trotzdem die erwähnte Ähnlichkeit vor. Was „substanzielle Ähnlichkeit“ konkret bedeutet, hängt von der jeweiligen Jury oder dem Richter ab. Es gibt keine konkrete Anzahl von Tönen. Bei Katy Perry, die für den Song „Dark Horse“ von dem Rapper Flame erfolgreich verklagt wurde, war die Tonhöhe der letzten Note tatsächlich eine andere.
„Was ‚substanzielle Ähnlichkeit‘ konkret bedeutet, hängt vom verhandelnden Gericht ab.“
Nicolay:
Das erinnert an Vanilla Ice, der bei „Ice Ice Baby“ behauptete, es handele sich nicht um ein Plagiat des Queen-Bassriffs von „Under Pressure“, da eine zusätzliche Note hinzugefügt wurde. Ein Beispiel, das du auf der Internetseite ebenfalls erwähnst.
Damien:
Exakt! Ändert das das Riff komplett? Nein, es ist immer noch „substanziell ähnlich“. Darin besteht die Schwierigkeit.
Nicolay:
Abgesehen vom Rhythmus: Würde es einen Unterschied machen, wenn jemand die Begleitakkorde unterhalb einer Melodie komplett ändert?
Damien:
Ich würde sagen, das macht keinen Unterschied. Du kannst dir zum Beispiel einen Cover-Song vorstellen – wenn du die Akkorde komplett änderst, aber die Melodie beibehältst, würde wohl niemand sagen, es sei kein Cover, nur aufgrund der geänderten Akkorde. Akkorde machen also keinen Unterschied. Was ich unbedingt für eine Jury und einen Richter darlegen möchte: Die Separierung der Komponente Melodie von Akkorden, Rhythmus, Lyrics, Instrumentierung, Arrangement ergibt aus meiner Sicht keinen Sinn – all diese Komponenten kreieren die Gestalt eines Songs! Lediglich einen aus dem Kontext herauszupicken – wie die Melodie – ist lächerlich, da sie nur einen Teil des Ganzen darstellt. Betrachtest du mehrere Komponenten gemeinsam wie Melodie plus Text, ist das Ergebnis offensichtlich: Dann liegt eine Kopie vor. Hier ist substanzielle Ähnlichkeit vorhanden. Eine Akkordfolge lässt sich nicht urheberrechtlich schützen, sonst würde jeder Bluesmusiker gegen Copyright verstoßen. Das wäre lächerlich. Mein Argument: Eine Melodie, eine Tonfolge schützen lassen zu können, halte ich für ähnlich lächerlich. Vielleicht weniger, da eine Melodie länger sein kann als eine Akkordfolge mit drei, vier Akkorden. Es ist naturgemäß leichter, bei Akkorden auf etwas bereits Vorhandenes zu stoßen, gerade, wenn du gängige Harmonieverläufe verwendest. Wenn du es in einem Spektrum betrachtest – wie stehen die Chancen, dass du die gleiche Akkordfolge verwendest wie jemand anderes? Sehr hoch! Bei einer Melodie ist die Chance niedriger, aber es handelt sich immer noch um das gleiche Konzept.
„Eine Akkordfolge lässt sich nicht urheberrechtlich schützen – sonst würde beispielsweise jeder Bluesmusiker gegen Copyright verstoßen. Eine Melodie, eine Tonfolge schützen lassen zu können, halte ich für ähnlich lächerlich.“
Nicolay:
Dein Punkt ist also, wenn jeder die gleichen Akkordverbindungen verwenden darf, warum sollte nicht jeder auch die gleichen Tonfolgen verwenden dürften?
Damien:
Genau.
Nicolay:
Um auf das Argument zurückzukommen, wonach geänderte Akkorde immer noch den Eindruck eines Covers allein anhand der Melodie erwecken würde: Wenn nun nicht mehr die Möglichkeit bestünde, ein alleiniges Copyright auf eine prägende, einzigartige Melodie zu erwirken, wäre es überhaupt noch wirklich möglich, einen Song urheberrechtlich zu sichern?
Damien:
Ja, du kannst dir die Gestalt als Copyright sichern, für den Song als Ganzes. Auf jeden Fall auch für eine Aufnahme, wie du den Song singst oder die Art, wie du Gitarre spielst – das, was die Musik hörenswert macht! Wir hören schließlich Musik nicht bloß wegen der Änderung der Tonhöhe. Darauf ziele ich ab: Niemand interessiert sich primär für die Änderung der Tonhöhe, sondern für das Spiel der Musiker – eine mitreißende Stimme, eine süßlich gespielte Gitarre, nichts, was in der Melodie festgehalten ist, sondern komplett in der Performance. Ich würde also zwei Dinge hervorheben: Aufgenommene Darbietungen sind in jedem Fall urheberrechtlich schützbar. Was die zugrundeliegenden Kompositionen angeht: Nimm die Gestalt aller der Elemente – Melodie plus Rhythmus, Akkorde, Lyrics und weitere Aspekte wie die Dynamik – diese gesamte Gestalt sollte weiterhin schützbar sein.
„Meiner Meinung nach sollte man einen Song lediglich in seiner Ganzheit schützen können – das, was Musik hörenswert macht! Wir hören schließlich Musik nicht bloß wegen der Änderung der Tonhöhe.“
Nicolay:
Sollte nicht ein „Grenzwert“ existieren, was die Wiedererkennbarkeit einer Melodie angeht? Der wäre wahrscheinlich schwer zu definieren, aber nehmen wir als Beispiel das Keyboard-Riff der Van-Halen-Nummer „Jump“ oder des Dire-Straits-Songs „Walk of Life“. Da wären wir bei deinem vorhin angeführten Argument: Wenn jemand schlicht die Melodie ohne Kontext singt oder pfeift, wäre das vermutlich eindeutig als Cover erkennbar. Verwendet jemand diese Melodie in der Form anderweitig, könnte man immer noch argumentieren, derjenige wolle sich den Erfolg des Originals zu Eigen machen.
Damien:
Lass uns kurz die Van-Halen-Melodie als Beispiel verwenden: Stell dir vor, ich würde eine Melodie kreieren, die so geht [Riehl singt die „Jump“-Melodie sehr getragen, langsam, mit leicht veränderten Notenwerten, als Streicher-Legato – das Ergebnis ist im ersten Moment kaum wiedererkennbar]. Das wäre kaum als Van-Halen-Cover erkennbar, verwendet allerdings die gleichen Tonhöhen! Hat Van Halen also ein Monopol auf diese Folge von Tönen, sodass sie ihnen gehört auf Lebenszeit, plus 75 Jahre? Oder sind das Elemente, die jeder nutzen können sollte?
Nicolay:
Den Punkt hast du aufgegriffen mit dem Beispiel der drei amerikanischen Kinderlied-Klassiker, „Twinkle Twinkle Little Star“, „Ba-Ba-Black Sheep“ oder dem „ABC Song“: Die drei haben im Kern dieselbe Tonfolge, was aufgrund der völlig unterschiedlichen Liedgestalten nie auffiel – bis jemand zufällig mal auf die Theorie dahinter blickte.
Damien:
Was das Beispiel angeht: Das sind gänzlich unterschiedliche Songs, die wir auch alle als solche wahrnehmen. Der Fakt, dass sie dieselbe Tonfolge als Melodie verwenden, ist eher Zufall als Absicht. Jemand hat den ersten der drei Songs komponiert und vielleicht hat später Person B oder Person C kopiert. Aber unabhängig vom Vorsatz eines späteren Songwriters: Kein Hörer denkt je darüber nach, außer er wird darauf hingewiesen. Daher sind es eigenständige Songs.
„Mozart, Beethoven oder jeder andere Komponist der Geschichte hat seine Vorläufer zitiert. Sollten wir für diese Hommage tatsächlich Geld zahlen müssen – oder ist es schlicht Teil der musikalischen Sprache?“
Nicolay:
Man könnte sagen: Wenn diejenigen das mit Absicht kopiert hätten, würde es hier in deinen Augen eher die Funktion einer Inspiration erfüllen, um etwas Neues zu kreieren?
Damien:
Das ist richtig. Und wenn du darüber nachdenkst – im Verlauf der Geschichte zitierte Haydn seine Vorgänger, Mozart tat es ebenso. Das macht keinen Unterschied zu dem Beispiel. Wenn ich also mit meiner Melodie das Van-Halen-Riff zitiere, meine Vorgänger zitiere, ist das etwas, weswegen ich verklagt werden sollte? Ist das, was Bach, Haydn, Mozart, Beethoven oder jeder andere gemacht hat – schlicht jeder – etwas, für das wir Geld zahlen sollen, um jemandem eine Hommage zu erbringen an die gute Arbeit, die sie früher geleistet haben? Oder ist es schlicht ein Teil der musikalischen Sprache? Ähnlich wie die Redefreiheit wäre das praktisch die Freiheit musikalischer Zitate, um praktisch in einen Dialog mit unseren musikalischen Vorfahren zu treten.
Nicolay:
Das Sampeln einer Aufnahme, wie es bei HipHop oft gemacht wurde, wäre in deinen Augen etwas anderes?
Damien:
Richtig, weil du hier auf die Gestalt des Songs abhebst! Es geht nicht nur um die Tonhöhenänderung, sondern um die gesamte Aufnahme der ursprünglichen Musiker, die ihre Instrumente spielen. Du machst dir folglich deren Performance zu Eigen, was etwas komplett anderes ist als das, was ich sage. Allein die Änderung der Tonhöhe sollte nicht kopierbar sein. Es gibt im US-Recht keine definitive Anzahl von Tönen, die eine Melodie enthalten darf, um noch nicht als Kopie zu gelten. Es existiert nur die sehr vage Regel substanzieller Ähnlichkeit. Es hängt also von einem Richter oder einer Jury ab, ob bereits die Anzahl x Noten einer Melodie Urheberrecht verletzt oder erst die Anzahl y.
Nicolay:
Ein rechtliches Grundproblem eures Projekts besteht darin, dass im Urheberrecht nur Melodien als schützbar erachtet werden, die von Menschen geschrieben wurden, nicht von einer Maschine. Richtig?
Damien:
Das ist an US-Gerichten eine offene Frage, ob das Werk einer Maschine urheberrechtlich schützbar ist oder nicht. Aber in Großbritannien zeigt die Rechtsprechung, dass Arbeiten von Maschinen tatsächlich geschützt werden können. Als Mitglied der sogenannten Berner Übereinkunft würde hier der Aspekt greifen, dass die teilnehmenden Länder gegenseitig die jeweiligen Copyright-Regelungen anerkennen müssen [insgesamt sind Urheberrechtsnormen praktisch weltweit über eine Vereinbarung geregelt: Die „Berner Übereinkunft zum Schutz von Werken der Literatur und Kunst“ trat 1887 in Kraft und wurde bislang von 178 Ländern ratifiziert, darunter die USA, Großbritannien und Deutschland – d. Autor]. Wenn also Großbritannien die Kreativität maschineller Arbeiten als schützenswert anerkennt, besteht die Frage, ob die USA das in gleichem Maße anerkennen muss, und das ist aktuell offen.
Nicolay:
Stehen denn bereits offizielle Entscheidungen auf Basis deines Datensatzes aus?
Schwer zu sagen, dafür müsste in Zukunft in einem Urheberrechtsstreit vor Gericht auf unsere Daten verwiesen werden. Im Sinne von: „Damien und Noah haben diesen Datensatz 2019 kreiert, daher kann ich nicht rechtlich belangt werden.“ Es braucht also ein Gericht, um zu entscheiden, ob etwas von dem, über das wir geredet haben, rechtlich bindend ist oder nicht.
Damien Riehl on YouTube
Bei einem TEDx-Talk in Minneapolis präsentierte der Anwalt Damien Riehl sein Projekt „All the Music“ ausführlich – samt Erläuterung der seiner Meinung nach problematischen Urheberrechts-Gesetzgebung:
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Weitere Hintergrundinformationen:
„All the Music“-Projektleiter Damien Riehl:
Den ersten Datensatz von Milliarden Melodien veröffentlichte er mit seinem Kollegen Noah Rubin im Juli 2019. „Die Grundidee hatte ich bereits vor Jahren“, erinnert sich Riehl. „Noah und ich haben die technische Umsetzung zum ersten Mal im März 2019 diskutiert; wir arbeiteten gemeinsam an einem langfristigen Auftrag zum Thema Cybersecurity, und die Idee kam – wie so viele gute Ideen – bei einem Drink in unserer Hotel-Lounge auf.“ (Foto: Damien Riehl)
„All the Music“-Programmierer Noah Rubin:
Damien Riehl: „Noah ist der brillante Entwickler, der das gesamte Coding übernommen hat – den Proof-of-Concept-Prototypen hat er in weniger als einem Tag erstellt. Später hat er das Programm in unterschiedliche Sprachen übersetzt, um die Performance zu verbessern und hat die Programmierung über das letzte Jahr hinweg immer mal wieder optimiert.“
Die im Algorithmus entstandenen Melodien sind frei herunterladbar (HIER KLICKEN) den Programmiercode legt das Projekt ebenfalls offen.
Zum Autor Nicolay Ketterer:
Nicolay Ketterer schreibt seit vielen Jahren für verschiedene Musiker-Fachmagazine.
Mit seinem Unternehmen realsamples, das seit 2003 existiert, übernimmt er die Digitalisierung historischer Tasteninstrumente wie Klaviere oder Cembali in Museen.
Ausblick auf die nächste Ausgabe SynMag 90
Die nächste SynMag Ausgabe (90) erscheint am 31.01.2022 und enthält unter anderem einen Bericht über die Elektro in Düsseldorf, einen Test über den Take 5 von DSI und ein Interview mit CYRK aka Sierra Sam und Pascal Hetzel.
Ein Thema, wo jeder Semi,-Hobbymusiker, der sein Gedöns veröffentlicht, irgendwann damit konfrontiert wird. Da ich dies seit etwa 12 Jahren mache, kann ich auch ein „Lied von singen“. Gerade als Hobbyenthusiast muss man fast schon mehr aufpassen, als wie die üblichen und bekannten Profis. Das Melodien freigegeben werden, halte ich für eine gute Sache. Denn eine „gängige rhythmische Idee“ darf schließlich auch kopiert werden, nur nicht der Klang. Beispiel wäre der typische Club „four-to-the-floor“ Rhythmus. Jeder Clubtrack hat diesen, meine ebenso. So lange ich nur die Idee benutze, aber nicht den erkennbaren dazugehörigen Sound, ist alles in Ordnung. Bei bekannten Melodien darf man weder das eine, noch das andere. Nur den selbigen Sound darf man verwenden und das kann schon für Ärger sorgen, weil so mancher Kollege angeblich die dazugehörige bekannte Melodie heraushört. Verändert man allerdings bei einer bekannten Melodie eine Note, wäre sowohl Melodie und dazugehöriger Klang wieder gesetzeskonform. Dennoch ist auch hier Ärger vorprogrammiert. Steht ein Rhythmus allerdings unverkennbar für einen Track (z.B. der Amen-Beat), kann der „klau“ dieser Idee schon wieder problematisch sein. Das Original Sample darf man natürlich nicht benutzen, aber vielleicht ist es mein eigenes Drumset! Man merkt also: Ein „Wirr-Warr“ an Gesetzen, die einen Musiker nur daran hindern, kreativ zu sein.
Noch eine Meinung aus gegenseitigerer Sicht, sprich den Profis. Was mich allerdings ebenso tierisch aufregt, und da kann ich die Profiproduzenten (eigentlich eher die Manager und Vermarkter) vollkommen verstehen: Wenn eines Tages ein Chartbreakerhit erscheint, Ariane Grande wäre so ein aktuelles Beispiel, jeder „Hinz und Kunz“ in Youtube und Konsorten eine Gitarren, – oder Flötenversion unter selbigen Namen herausbringen muss! Das ist einerseits eine kostenlose Werbung für den Hit, auf der anderen Seite verdienen bekannte Influencer damit Geld, sprich mit der Coverversion von dem Superhit. Ist das freie Entfaltung oder gehört so etwas angezeigt? Youtube scheint hier allerdings Machtlos zu sein. Im schlimmsten Fall wird das Video gesperrt und fertig. Aber die Wiederholungstaten der Influencer machen im Endeffekt das Geld. Eine einfache und lukrative Geschäftsidee! Bestes Beispiel sind sog. Mash-Ups (= aus zwei bis drei Hits einen zusammenschneiden). Mich würde das als „Hitgeber“ aufregen. Ausgeschlossen sind natürlich gemeldete Coverversionen und Mash-ups. Mash-Ups sind tolle kreative Songs und im Club der Hit. Also kreative Freiheit oder Erfolg mit Fremdmaterial? Das ist hier die Frage!
Die Aussage des Anwalts ist ja eigentlich folgende: Wir sprechen Komponisten generell die Schöpfungstiefe ab, sodass Firmen ohne die störenden Musiker Geld verdienen können. „Tonfolgen“ sind nach der Argumentation kein Werk. Böse……
Artikel wie diese sorgen dafür, dass Musiker das Gefühl bekommen, dass das Urheberrecht kompliziert wäre. Zusätzliche Verwirrung wird gestiftet, wenn aus einem ganz anderen Rechtsraum berichtet wird.
In Deutschland ist es ganz einfach: Die Komposition muss durch einen Menschen erschaffen sein (womit 99% des Artikels oben irrelevant ist) und dessen persönliche geistige Schöpfung sein (§2 (2) UrhG).
Wichtig: Es geht immer um das Werk, nicht um einzelne Teile – wie die Melodie. Die KANN geschützt sein, wenn ein Wiedererkennungswert und eine Schöpfungshöhe vorliegt. Beispiel: Mein Amazon-Weekend-Song (einfach 8tel): c c# d d# e f f# g g# a a# h. Hiermit veröffentlicht. Kann ich mich jetzt auf das Urheberrecht beziehen? Wiedererkennungswert ist da, aber die Schöpfungshöhe fehlt. Also nein.
Da muss auch nichts angemeldet werden oder zur GEMA gerannt werden: Das Urheberrecht gilt, sobald man das Stück geschrieben/gespielt/aufgenommen hat. Das ist im Common Law-Rechtsraum (USA, GB – siehe Artikel) komplett anders: Hier ist eine Meldung beim US-Patentamt erforderlich – dann kann auch das berühmte (c) verwendet werden.
2. Teil
Im Artikel werden Cover-Versionen und Bearbeitungen eines Werks durcheinandergeworfen. Das ist massiv ärgerlich, weil das Covern genau geregelt ist und für Bearbeitungen halt andere Regeln gelten.
Um direkt aus dem Artikel zu zitieren: „Niemand interessiert sich primär für die Änderung der Tonhöhe, sondern für das Spiel der Musiker – eine mitreißende Stimme, eine süßlich gespielte Gitarre, nichts, was in der Melodie festgehalten ist, sondern komplett in der Performance.“
Das ist kein Komponieren – das ist Musizieren! Hier gilt das Urheberrecht überhaupt nicht. Das ist eher im Bereich Verwertungsrecht.
Nochmal: Hier wird ganz im Ernst geschrieben, dass meinetwegen die Songs, die Axel in den letzten 30 Jahren geschrieben hat alle irrelevant sind und nur die Aufführung einen Wert hat. Darf aber auch gerne jemand anderes aufführen, weil einen Song schreiben ist ja keine Kunst… Das wird nur noch übertroffen mit dem rhetorischen Trick, auf die Verletzung eines Urheberrechts über die Folgen bei Straftaten zu sinnieren.
Ich hoffe nur, dass das Interview in Englisch geführt wurde und beim Übersetzen Begriffe aus dem Fach-Englischen fehlerhaft interpretiert wurden.
Oder es geht um Click-Bart: Das könnte natürlich funktionieren
@Django07 Click Bait glaube ich jetzt nicht unbedingt, ansonsten aber volle Zustimmung.
Bezogen auf den von dir zitierten Satz möchte ich noch anmerken, dass ein „guter“ Song, und damit die Melodie als wesentlicher Bestandteil, imho in vielen Interpretationen funktioniert, während ein „schlechter“ Song auch von der besten Performance nicht gerettet werden kann.
Mal abgesehen davon, dass das Zusammenspiel von Akkorden und Melodie den Charakter eines Songs ganz entscheidend prägt und ich die formale Trennung dieser Elemente um etwas als schützenswert zu betrachten oder nicht für schwierig halte.
Eine sehr interessante Diskussion.
Das die beiden die maschinengenerierten Melodien als Common Lizenz freizugänglich machen wollen ist für mich ein Weg den ich kritisch sehe.
Denn das würde bedeuten das Jemand anderes der mit einer Maschine Melodien Content erstellt sich diesen dann auch für sich schützen lassen könnte.
Die Beiden sind in diesem Fall die guten.
Aber im Prinzip wäre das für Jemand der damit abkassieren möchte dann genau so möglich.
Mal folgende theoretische Überlegung. Ich hab’s mal eben auf dem Keyboard ausprobiert, weiß aber nicht, ob das die Originale Tonart ist. Also: Wenn ihr folgenden 4/4tel Takt spielt, wobei Pausen und Noten jeweils eine Viertel Note sind:
A3 P P A3 C4 A3 P P C4 P D4 G4 E4 P P P
… dann hört ihr eindeutig (zumindest für meine Ohren) von Kraftwerk »Die Roboter«.
Nimmt man nun die Pausen heraus – man verändert also den Ryhtmus – und spielt das Ganze zwei Oktaven tiefer, dann ergibt sich ein wundervolles Bass-Pattern:
A1 A1 C2 A1 C2 D2 G2 E2
Wäre das schon ein Fall von einem Plagiat? Ich bin mir total uneins.
Nach Aussage von Filterpad oben in Deutschland eher nicht, in den USA – reine Tonfolge – dagegen schon. Oder?
@Flowwater Der Rhythmus ist Teil der Melodie – nicht allein die Töne. Hier kommt die Geschichte mit dem Wiedererkennungswert ins Spiel: Klingt das Bass-Pattern eindeutig nach „Roboter“, dann ist das eine Bearbeitung (kein Plagiat!). Ein Plagiat wäre es, wenn Du den Kraftwerk-Song coverst UND behauptest, es wäre deine eigene Idee gewesen. Wobei das wahrscheinlich schneller rauskommt als damals bei Guttenberg…
Mit neuem Rhythmus wird es wohl eine neue Melodie sein – und hat vielleicht auch eine gewisse Schöpfungshöhe. Dann ist alles gut. Oder aber einfach eine Basslinie. Die vielleicht allein stehend nicht die erforderliche Schöpfungshöhe hat, um allein schützenswert zu sein, im Kontext Deines Stücks aber ein Werk mit Schöpfungshöhe darstellt.
Wie wichtig der Rhythmus ist, kann man beim „imperialen Marsch“ hören: ich denke es ist fast schon egal, welchen Ton man spielt – wen der Rhythmus korrekt wiedergegeben ist, sieht man den Bösewicht in seiner schwarzen Rüstung vor sich.
In den USA geht es ebenfalls um den Wiedererkennungswert: erfolgreiche Klagen gehen nicht gegen die Tonfolge, sondern gegen die Melodie. Und die besteht nun einmal aus Tonfolge und Rhythmus.
ich kann die Argumentation der beiden schon nachvollziehen. Sie führen das Bluesschema an, andere Akkordfolge wäre das phrygische Thema von Bach Am-G-F-Em z.B King Crimson „in the court of the crimson king“ oder die Kadenz IV-I-V, z.B. „Feel“ von Robbie Williams, alles oft zu hörende Akkordfolgen wie auch der Amen Break. Auf amazona gibt es einen Artikel über die am häufigsten gebräuchlichen Akkordfolgen in der modernen Musik.
Anders ein solches Beispiel. Nutzt man/frau z.B. die Akkordfolge von „House of the rising Sun“ komplett wird der Ursprung erkannt.
Was ist von daher verstehe, die beiden wollen sagen, die Melodie macht die Musik. Nicht ganz zu Unrecht, aber nicht auf jedes Stück Musik übertragbar.
Ich erinnere mich auch noch an den Plagiatsvorwurf der Familie Bach an Procul Harum. War „A whiter schade of pale“ ein Plagiat von Bachs „Air“ wegen des abfallenden Basses oder nicht. Ich weiß nicht mehr, wie das Gericht damals entschieden hat.
Wenn das Problem des Projekts darin liegt, dass computergenerierte Melodien nicht schützbar sind, wäre es dann nicht eine bessere Idee, in alten Werken nach Tonfolgen zu suchen? Spätestens 100 Jahre nach dem Tod des Urhebers (je nach lokaler Gesetzgebung) wird ein Werk gemeinfrei. Solche alten Werke gibt es im 21. Jahrhundert zuhauf, und teilweise stecken da auch sehr viele Töne drin, womit ein großer Teil der brauchbaren Tonfolgen abgedeckt sein sollte. Das Ergebnis könnte z.B. eine Website sein, wo man die Töne der Melodie angibt. Der Server durchsucht dann die Datenbank. Wenn etwas gefunden wird, ist der Plagiats-Vorwurf, sofern er sich nur auf die Tonfolge stützt, kaum noch plausibel. Der Kläger würde sich selbst ein Neu-Erfinden zugestehen, dem Beklagten aber nicht. Der 1001. Aufwärmer einer Idee von Corelli behauptet, ohne ihn hätte es den 1002. nicht gegeben. Die Stücke müssten dann schon viel gemeinsam haben, nicht nur die nackten Töne.
Meiner Ansicht nach ist es bei der gegenwärtigen Rechtslage in den westlichen Ländern kaum möglich zu komponieren, ohne zu plagiieren. Bei Spotify liegen 70 Millionen Stücke, die meisten mit Melodie. Dass es nicht bei jedem neuen Song Ärger gibt, liegt nur daran, dass die meisten Ähnlichkeiten, die schon als Plagiat zählen würden, nicht entdeckt werden. Irgendwann werden Computer das können, dann wird es lustig.
Eine Problematik in dem Zusammenhang ist auch, dass nicht nur die Anzahl von Tonfolgen begrenzt ist, sondern Kompositionsregeln und Hörgewohnheiten die Anzahl möglicher Kombinationen zusätzlich beschränken. Zu einer bekannten Akkordfolge kann man, wenn man die Regeln der Harmonik nicht verletzen will, eben nicht jeden beliebigen Ton an jeder beliebigen Stelle einsetzen.
Ich weiß nicht, ob es jemand schon mal mathematisch durchgerechnet hat, aber z. B. beim klassischen 12-Bar-Blues, basierend auf einer Blues-Tonleiter, würde es mich sehr überraschen, wenn nicht schon alle Varianten an möglichen „hörbaren“ Melodien geschrieben worden wären.