Die Waldorf Programmierer Stenzel & Franke
Es ist uns gelungen, während der Musikmesse Frankfurt 2001, die beiden Waldorf Programmierer Wolfram Franke und Stefan Stenzel zu interviewen. Gesprächsthema Nummer 1 war natürlichg das neue VST-Plug-In ATTACK, mit dem Waldorf erstmals eine Hardware auch als Software anbietet:
Amazona:
Hallo Stefan und Wolfram, Zusammen habt Ihr das neue VST Plug-In ATTACK programmiert.
Wie genau teilt ihr Eure Aufgabenbereiche auf?
Stefan:
Wolfram bekommt von mir die Basic Building Blocks wie Oszillatoren, Sampling Playback, das Filter etc. Eigentlich nur ganz grob, so dass er das seinen Bedürfnissen anpassen kann. Wolfram entwirft daraufhin das ganze Produkt, macht die ganze Feinarbeit und legt die Struktur fest. Er ist eigentlich der Hauptkopf hinter der Sache. Dazu kommt noch, dass ich sehr viele Bugs fixe und auch dafür sorge, dass es optimiert ist.
Amazona:
Wurden denn hierfür nicht die Filtermodelle eines bereits bestehenden Synthesizers aus dem Hause Waldorf verwendet?
Wolfram:
Doch, genau das habe ich auch gemacht. Ich habe den ganzen Drumsynthesizer erst mal komplett „runtergeschrieben“, so dass man ihn hören konnte und etwas damit anfangen konnte. Das Ding hat zunächst natürlich noch viel zu viel Rechenzeit gebraucht. Daraufhin hat sich Stefan in das Projekt eingeklinkt und z.B. festgestellt, dass er die Oszillatoren noch bedeutend schneller hinkriegt.
Amazona:
Wo genau habt ihr denn das Filter hergenommen?
Wolfram:
Das Filter ist eigentlich immer noch das Filter, das ich einst für den D-Pole programmiert habe. Es hat auch bereits im PPG Wave 2.V Verwendung gefunden, mit dem Unterschied, dass es im ATTACK nur mit 12dB läuft. 24dB muß man bei einem Drumsynthesizer auch nicht haben, da sind andere Kriterien viel wichtiger, wie z.B. die Schnelligkeit der Envelopes.
Stefan:
Eigentlich braucht man für die meisten Sounds gar kein Filter.
Amazona:
In eurer Demo hörte man aber soeben einige Simmons-ähnliche Toms. Da waren doch Filter im Einsatz?
Wolfram:
Ja, diese Simmons Toms brauchen ein bisschen Filter, deshalb ist letztlich auch eins drin. Für einen typischen 808 oder 909 Sound braucht man hingegen eigentlich kein Filter. Die 808 bestand zwar praktisch nur aus Filtern, aber diese Filter waren ständig in der Selbstoszillation und wurden dadurch quasi zum Oszillator zweckentfremdet – übrigens ohne nachgeschaltetem Filter. Hingegen für Handclaps benötigt man schon einmal einen Hochpass- oder Bandpass-Filter. Tiefpässe sind allerdings bei alten Klapper-Dinosauriern selten. Normalerweise kommt man für die Erstellung von synthetischen Drums am weitesten mit FM.
Amazona:
Mit FM – wie im DX7?
Wolfram:
So kompliziert nun nicht, man braucht keine 6 Operatoren, zwei Oszillatoren reichen. Aber das ist eigentlich der Witz: Wenn man Drumsounds erstellt, baucht man fast immer FM. Am Simmons Drumset sorgt FM z.B. für den fetten ATTACK-Sound.
Stefan:
Vor allem FM mit Rauschen ist dabei sehr wichtig. Damit es in den ersten Millisekunden richtig kaputt klingt. Mit einer Hüllkurve moduliert man das FM so, dass am Anfang erstmal nicht die Wellenform, sondern ein stark verfremdeter Rauschklang zu hören ist, der in kürzester Zeit zu einer periodischen Wellenform mutiert. Das ergibt diesen typischen schmatzenden, fetten Klang der Simmons-Drums.
Amazona:
Wurde von euch sehr viel Wert darauf gelegt, die großen Klassiker wie TR909 oder TR808 nachzubilden?
Wolfram:
Es gibt zwar 808, 909 und Simmons Drumkits, aber es war nicht das Ziel, diese Drumcomputer exakt nachzubauen. Manche der ATTACK Sounds sind extrem nahe am Original und manche sind wieder etwas weiter weg. Wenn jemand genau den Sound von einem dieser Klassiker haben möchte, dann hat er zwei Möglichkeiten: Er kann sich das Original kaufen (wenn er so viel Geld hat) oder er kann sich eine gute Sampling CD besorgen. Der ATTACK hingegen soll eigenes Charisma besitzen und zum Schrauben einladen. Nur um keine Leser zu verunsichern – wenn jemand mit dem ATTACK ein 808 oder 909 Kit spielen will, sind die mitgelieferten Kits völlig ausreichend. Natürlich sind immer noch Unterschiede zu hören, da wir aus Copyright-Gründen natürlich nicht die 909-Samples der Hihats und Becken nehmen durften. Aber die synthetischen Sounds kommen sehr nahe ans Original. Aber: aus Spass habe ich einen weiteren Roland-Klassiker als Drumkit nachgebaut, der aber nicht so bekannt ist wie 808 oder 909: die gute alte CR-78. Die lässt sich sehr authentisch auf dem ATTACK nachbilden. Besonderes Augenmerk habe ich dabei auf die ATTACK-Phasen gelegt, die CR-78 hatte bei vielen Sounds ganz sensible Eigenheiten, die in den allerersten Millisekunden auftraten. Kann man schlecht beschreiben, muss man hören. Kann man aber, das Drumkit ist auf der ATTACK-CD mit dabei.
Stefan:
Es ist wirklich so, daß man die Klangunterschiede wirklich nur im direkten A – B Vergleich hören würde. Ohne diesen A – B Vergleich wird selbst ein „geschultes“ Ohr den Unterschied nicht hören können.
Wolfram:
Wo man allerdings ganz extreme Unterschiede hat, ist bei den Becken der 808. Das 808 Becken besteht aus sechs Rechteck-Oszillatoren, die unterschiedlich gestimmt sind und unterschiedlich lang ausklingen. So kompliziert wollten wir aber die Struktur des ATTACK nicht machen, und um nur einen einzigen bestimmten Sound hinzubekommen, wollten wir auch keine 6 Oszillatoren in eine Stimme reinbraten. Wenn also jemand ein authentisches 808-Becken braucht, Sample CD rausholen, WAV- oder AIFF-Datei aus dem Sample machen und rein ins Steinberg LM-9 oder LM-4. Wir wollten ein VST-Plug-In auf den Markt bringen, mit dem man Spass hat. In kürzester Zeit soll der User seine eigenen Drumsounds bauen, und die müssen natürlich so richtig knallen. Das ist viel wichtiger als der X-te Versuch, einen 808- oder 909-Clone auf den Markt zu bringen.
Amazona:
Bei Eurer Demo, die ausschließlich mit dem ATTACK gefahren wurde, hatte man den Eindruck, mehr zu hören als nur einen Drumsynthesizer. Lassen sich innerhalb des ATTACKs polyphone Synthesizer erzeugen?
Wolfram:
Ja. Der ATTACK spielt 24 unterschiedliche Sounds gleichzeitig, die von C1 bis H2 (englisch: B2) auf der Klaviatur verteilt sind. Die 12 Sounds der zweiten Oktave lassen sich zusätzlich auch auf den MIDI-Kanälen 1 bis 12 ab C3 aufwärts melodisch und polyphon spielen. Die Synthesizersounds, die man mit dem ATTACK erzeugen kann, sind zudem sogar noch ziemlich komplex. Mit wenigen Reglern kommt man sehr weit, Bässe, Leadsounds und Sequencer-Linien hat man in ein paar Sekunden programmiert, selbst Pads und komplexe FM-Sounds lassen sich recht schnell erzeugen. Natürlich ist der ATTACK limitiert, um das User-Interface nicht zu überfrachten und seine Stellung als „Percussion Synthesizer“ herauszuheben.
Stefan:
Es gibt bspw. keine komplette ADSR-Hüllkurve, sondern eine speziell für perkussive Klänge ausgelegte AD-Hüllkurve (also Attack und Decay, Note Offs werden ignoriert), die sich aber je nach Anwendung auch als AR-Hüllkurve (Attack und Release, nach der Attack-Phase bleibt das Signal auf voller Stärke, bis man die Taste loslässt) nutzen lässt. Das Schmankerl an dieser Hüllkurve ist aber, dass sich die Form der Decay- bzw. Release-Phase von exponentiell über linear und umgekehrt exponentiell bis hin zu kosinusförmig stufenlos einstellen lässt. Somit kann man das Verhalten von analogen Hüllkurven bis ins kleinste Detail simulieren.
Amazona:
In Verbindung mit CUBASE oder LOGIC lassen sich mit dem ATTACK also bereits ganze Songs realisieren. Wieviele Stimmen kann der ATTACK den erzeugen?
Wolfram:
Bis zu 64 Stimmen pro Plug-In. Auf einem 400MHz Rechner, egal ob Mac oder PC, bekommt man ungefähr 20 bis 24 Stimmen hin.
Amazona:
Lassen sich mehrere ATTACK Plug-In’s, genügend Rechenpower vorausgesetzt, gleichzeitig starten?
Wolfram:
Ja, selbstverständlich. Im Ruhezustand benötigt der ATTACK nur ein kleines bisschen Prozessorleistung für die zwei integrierten Delays. Man kann gerne mehrere ATTACKs öffnen, wenn man mehr als die 8 Ausgänge und zwei Delays pro ATTACK braucht. Am Steinberg Stand hatten sie einen PC mit 1,3GHz oder so, selbst mit 64 Stimmen ging die Prozessorleistung nur auf ungefähr die Hälfte hoch.
Amazona:
Wird innerhalb des ATTACKs alles synthetisch erzeugt oder kommen auch Samples zum Einsatz (z.b. für die Becken)?
Wolfram:
Es gibt exakt drei Samples: eine geschlossene Hihat, eine offene Hihat und ein Crash-Becken. Alles andere wird komplett synthetisch mit den Grundwellenformen Dreieck,Sinus, Rechteck und Sägezahn, oder mit Rauschen und Sample&Hold erzeugt.
Amazona:
Wenn ja kann man die Samples selbst austauschen?
Wolfram:
Nein. Um es ganz klar zu sagen: der ATTACK ist kein Sample-Player. Der Markt ist bereits voll von Drum-Sample-Playern, sei es das bei Cubase 5.0 kostenlos mitgelieferte LM-9, oder kostenpflichtige Plug-In’s wie das LM-4 oder Native Instruments¹ Battery. Auch im Share- und Freeware-Bereich wird man schnell fündig. Die Welt braucht sicher nicht „noch einen Drum-Sample-Player“. Die drei Blech-Samples sind nur „für Eilige“, die mal gerade eine halbwegs natürliche Hihat brauchen oder ein Crash-Becken auf die „Eins“ setzen müssen. Übrigens: die Handclaps sind auch rein synthetisch hergestellt. Auf der Musikmesse gab es da das eine oder andere ungläubige Gesicht. Um Handclaps authentisch zu synthetisieren, muss der Anfang des Sounds mit einer Sägezahnwelle in der Lautstärke moduliert werden. Zu diesem Zweck gibt es im ATTACK den sogenannten „Crack“-Modulator, den man natürlich in Geschwindigkeit, Intensität und Anzahl der Sägezähne einstellen kann.
Amazona:
Wurde schon darüber nachgedacht, den ATTACK auch als Hardware-Produkt zu präsentieren – liegt doch irgendwie nahe…
Stefan:
Liegt nahe, stimmt. Ich kann dazu aber noch nichts sagen. Um sowas zu entscheiden, müssen wir erstmal Marktforschung betreiben, die Konkurrenz beäugen und sehen, ob wir Ressourcen freischaufeln können. Wir schauen erstmal, wie sich das ATTACK Plug-In verkauft und dann sehen wir weiter.
Amazona:
Es soll ja Menschen geben, die dem GM Standard verfallen sind. Wie verhält es sich da mit dem ATTACK.
Wolfram:
„Viel“ General MIDI wird man im ATTACK leider nicht finden, dazu ist die Architektur zu komplex und die Anforderung an eine einfach zu bedienende Benutzerschnittstelle zu hoch. Die Sounds liegen alle aneinandergeklebt von C1 bis H2. Eine Kuhglocke, die in der GM-Drummap ja auf G#3 oder so liegt, hat also immer verloren. Im User-Interface eine freie Belegung der Noten für jeden Sound anzubieten, hätte es unheimlich aufgeblasen und die Bedienung viel komplizierter gemacht. Außerdem ist man bei der Programmierung der 24 Sounds ja völlig frei, in jedem Set wäre dann die Belegung anders gewesen. Mit den MIDI-Controllern ist das ebenfalls so eine Sache: GM-Drummaps lassen sich nicht direkt über Controller steuern, sondern werden je nach Hersteller mit anderen NRPN-Controller-Folgen geändert. NRPN finden wir blöd, da man sie im Sequencer überhaupt nicht editieren kann und sie jede Menge Probleme nach sich ziehen. Also funktioniert das im ATTACK so: die unteren 12 Sounds werden auf den MIDI-Kanälen 1 bis 12 über die Controller 12 bis 59 automatisiert, die oberen 12 Sounds ebenfalls auf den MIDI-Kanälen 1 bis 12 über die Controller 72 bis 119. Die zwei Delays auf MIDI-Kanal 16, Delay 1 bekommt die Controller ab 12 und Delay 2 die Controller ab 72. Hört sich zunächst verwirrend an, man kommt aber nach ein paar Minuten dahinter. Außerdem hat der ATTACK extra dafür ein sehr charmantes Feature: im Display wird automatisch ein Parameter angezeigt, wenn man mit der Maus über einen Regler fährt. Und zwar steht dann im Display bspw. folgendes: „Osc 1 Pitch 23.567Hz #13“. Die Bezeichnung „#13“ stellt dabei die Controllernummer dar, und die Soundnummer, die man auf der Klaviatur ablesen kann, den MIDI-Kanal.
Amazona:
Noch generell eine Frage zu Produktpolitik von WALDORF. Befindet man sich als Hersteller virtueller Klangerzeugung nicht irgendwann in einer Sackgasse? Was kann nach Q, MICROWAVE und ATTACK noch kommen?
Stefan:
Du hast Recht, wir befinden uns tatsächlich in einer Phase, wo es Zeit wird, über alternative Konzepte nachzudenken. Das Thema virtuelle Analogsynthese ist langsam durch – der Horizont ist meines Erachtens erreicht. Alle Welt macht mittlerweile Virtuell-Analoge Klangerzeuger – die Zeit für neue Innovationen ist reif. Vielleicht gibt es ja sogar alte Konzepte, die damals noch nicht richtig realisiert worden sind, weil die Rechenpower noch nicht ausgereicht hatte. Da muss man einfach einen Schnitt machen und über etwas Neues nachdenken und da wird von Waldorf sicherlich etwas kommen.
Amazona:
Stefan und Wolfram, wir bedanken uns recht herzlich für dieses interessante Interview.
Auch nach mehr als einem Jahrzehnt noch ein sehr interessantes, aufschluss- und lehrreiches Interview. Vielen Dank an Euch und die beiden Jungs von Waldorf!