Ein Wegweiser des Rock'n'Roll
„Highway 61 Revisited“ ist mehr als nur ein Albumtitel – er steht für eine Zeitenwende in der Rockmusik. In diesem Making-of entführen wir dich in das New Yorker Columbia-Studio A der 60er-Jahre, wo ein junger Bob Dylan zwischen flackerndem Neonlicht und Zigarettenrauch seine musikalische Revolution entfachte.
Erfahre, wie Songs wie „Like a Rolling Stone“ und „Ballad of a Thin Man“ entstanden, welche Geheimnisse die Aufnahmesessions umgeben und warum der neue Film A Complete Unknown seine Daseinsberechtigung hat. Making of Highway 61 Revisited – oder: Wie ein einziges Album die Musikgeschichte nachhaltig veränderte.


Inhaltsverzeichnis
- Von der Folk-Ikone zum elektrischen Rebellen
- Studio A, New York: Wo der Sound der 60er geboren wird
- Bob Dylan & Co im Columbia Records’ Studio A
- Ikonische Songs: Hymnen einer Zeitenwende
- Stilbruch und Einfluss: Dylans elektrischer Donnerschlag
- Eine Legende auf der Leinwand: A Complete Unknown
- Fazit: Das Lebensgefühl der 60er im Klang eingefangen
Von der Folk-Ikone zum elektrischen Rebellen
Anfang 1965 steht Bob Dylan an einem Wendepunkt. Der 24-jährige Folksänger aus Minnesota, der in Greenwich Village zum Sprachrohr einer Generation aufgestiegen war, spürt eine innere Unruhe. Nach anfänglichen Protestliedern und akustischen Balladen zieht es ihn in neue Gefilde – weg vom puristischen Folk-Idol, hin zu etwas Unbekanntem und Aufregendem.
Dylan ist auf der Suche nach einem neuen Sound, der seine rasanten künstlerischen und persönlichen Entwicklungen widerspiegelt. Er hat gerade Bringing It All Back Home veröffentlicht, ein Album, das erstmals elektrische Instrumente mit akustischen Songs mischte. Doch das war nur der Anfang. Im Sommer 1965, mit einer wachsenden Plattensammlung an Rock’n’Roll und Blues, brennt Dylan darauf, sämtliche Grenzen zu sprengen.
In dieser Zeit formuliert Dylan Texte von nie dagewesener Wucht. Eines Nachts schreibt er in einem wahren Rausch an einem längeren Textdokument – „wie ein 20 Seiten langer wortgewaltiger Erguss“, wie er es selbst beschrieb. Aus diesem surrealen Wortschwall destilliert er einen Song, der sein eigenes Schicksal verändern soll: Like a Rolling Stone. „So etwas hatte ich noch nie geschrieben und plötzlich wurde mir klar, dass genau das meine Bestimmung war“, reflektierte Dylan später über diesen kreativen Durchbruch.
Der Song, in dem er hasserfüllt-abrechnende Zeilen mit einem mitreißenden Refrain („How does it feel…?“) verbindet, markiert Dylans Befreiung aus dem Korsett des Folk-Sängers. Nach dieser Nacht denkt Dylan nicht mehr daran, Romane oder Gedichte zu schreiben – er will Songs schreiben. Und diese Songs sollen elektrisch verstärkt die Welt erschüttern.
Studio A, New York: Wo der Sound der 60er geboren wird

Ein junger Bob Dylan weit bevor es an die Highway ging, Quelle: https://catalog.archives.gov/id/542021, Urheber: Scherman, Rowland, The US Information Agency, 1963
Es ist Juli 1965 in Midtown Manhattan. In Columbia Records’ Studio A – einem großen, leicht schummerigen Raum an der 7th Avenue – herrscht gespannte Erwartung. Bob Dylan, schlaksig, krauses Haar, Sonnenbrille auf der Nase, betritt den Aufnahmeraum mit einer Zigarette im Mundwinkel. Um ihn herum versammelt sich eine illustre Runde von Musikern:
Der 22-jährige Gitarrenvirtuose Mike Bloomfield von der Paul Butterfield Blues Band hat seine Fender-Gitarre im Anschlag; Organist Al Kooper lauert in der Ecke – eigentlich als Gast im Studio, aber bereit, sich ins Geschehen einzumischen; am Klavier sitzen Paul Griffin und Frank Owens. Am Schlagzeug wartet Bobby Gregg, und die Bassistenrolle wird nach einigem Hin und Her an diesem Tag ein Neuzugang übernehmen: der erst 21-jährige Harvey Brooks, der erst am Vorabend einen Anruf von Kooper erhielt, Dylan brauche „einen neuen Bassisten“. Die Atmosphäre ist locker, doch konzentriert.
Produzent Tom Wilson leitet zunächst die Session. Wilson hat bereits Dylans vorheriges Album betreut und ist offen für Experimente. Er hat Bloomfield ins Boot geholt und nichts dagegen, dass Kooper – ursprünglich nur als Beobachter eingeladen – sich einmischt. Als Dylan am 16. Juni 1965 den Song Like a Rolling Stone aufnehmen will, sieht Kooper seine Chance gekommen: Obwohl er kaum Orgel spielen kann, schleicht er sich an die Hammond-Orgel, als der eigentliche Organist kurz pausiert.
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Was dann passiert, wird zur Legende. Während der vierten Take des Songs ruft Dylan plötzlich: „Dreh die Orgel lauter!“, denn dieses sägende, hymnische Orgelriff, das Kooper improvisiert, verleiht dem Song genau die richtige Farbe. Wilson protestiert zunächst – „Der Typ ist doch gar kein Organist!“ –, doch Dylan entgegnet nur lakonisch: „Ist mir egal, dreh die Orgel auf.“ Gesagt, getan: Die Orgel heult über den treibenden Snare-Schlägen und Bloomfields kreischender Gitarre. Like a Rolling Stone ist im Kasten – und mit ihm ein Stück Musikgeschichte.
Kritiker nennen später Dylans jungen, wütenden Gesang gepaart mit jener „apokalyptischen Orgel“ geradezu revolutionär. Tatsächlich sprengt der Song mit seinen sechs Minuten alle gängigen Pop-Formate, doch im Sommer 1965 wird er ein weltweiter Hit (Platz 2 in den USA). Die Musikwelt spürt: Hier braut sich ein Sturm zusammen.
Nach dieser erfolgreichen Single ändert sich hinter den Kulissen einiges. Aus nicht ganz geklärten Gründen wird Tom Wilson durch den jungen Columbia-Produzenten Bob Johnston ersetzt. Johnston, ein Texaner mit Hang zur Spontaneität, verfolgt einen „dokumentarischen“ Produktionsansatz: Er lässt am liebsten permanent die Bänder mitlaufen, um jeden flüchtigen magischen Moment einzufangen. Er lässt sogar mehrere Tonbandmaschinen gleichzeitig aufzeichnen, damit ihm ja nichts entgeht.
Diese Methode passt perfekt zu Dylans Arbeitsweise – einem Künstler, der oft im Augenblick erschafft. Für Johnston ist es die erste Zusammenarbeit mit Dylan, doch er begreift schnell, worauf es ankommt: „Halte das Band am Laufen und störe die Band nicht.“ In Studio A wird ab Ende Juli 1965 nun intensiv an dem restlichen Album gearbeitet, das den Titel Highway 61 Revisited tragen soll – benannt nach der legendären Blues-Highway-Straße, die Dylans Heimat im Norden mit dem musikalischen Süden Amerikas verbindet.
Bob Dylan & Co im Columbia Records’ Studio A

Immer mit dem Blick nach innen: Bob Dylan, Quelle: Flickr, September 2, 2008, Urheber: Xavier Badosa
Die Aufnahmesessions verlaufen ungewöhnlich. Dylan kommt ohne fertige Arrangements oder Notenblätter ins Studio. Er hat nur seine neuen Songs im Kopf – und oft noch nicht einmal alle Songtexte vollendet. Die Musiker müssen auf jedes Zeichen achten. „Es gab keine Akkord-Charts für irgendwen. Alles lief übers Gehör“, erinnert sich Harvey Brooks. Dylan steht entweder mit der E-Gitarre oder am Klavier im Aufnahmeraum, singt den Musikern einen neuen Song vor – und erwartet von ihnen, dass sie spontan etwas daraus machen.
Sobald Dylan das Gefühl hat, die Band hat den Vibe erfasst, zählt er an. Was folgt, ist ein erster Take – meist roh, voller kleiner Patzer, aber mit genau der Energie, die Dylan will. Wenn der Groove stimmt, sind ihm schiefe Töne egal. „Wenn das Feeling da war und die Performance stimmte, war das alles, was zählte“, so Brooks. Dylans Miene bleibt dabei Pokerface – niemand kann ablesen, ob er zufrieden ist. Er bricht selten ab, spielt Songs mehrfach hintereinander durch, während er in jeder Runde an Textzeilen feilt, Wörter ändert, Zeilen umstellt. Es ist eher eine Live-Performance als eine typische Studioaufnahme.
Johnston und das Ingenieur-Team haben alle Hände voll zu tun, Dylans Unberechenbarkeit einzufangen. Mehrfach muss die Band umstellen: Ein Bassist wird ausgetauscht, weil Dylan „das Gefühl“ nicht passte. Bloomfield liefert wahre Eruptionen an der E-Gitarre – er füllt jeden Raum zwischen Dylans Gesang mit lodernden Blues-Licks. „Sein Spiel war aggressiv und immer etwas vorneweg“, beschreibt Brooks den jungen Gitarristen bewundernd. Kooper wechselt an Orgel oder Klavier, wo immer nötig, und „produziert Orgelklänge wie aus einem Horrorfilm“, besonders in einem unheimlichen neuen Song namens Ballad of a Thin Man.
Dylans eigenes Klavierspiel – schwer und düster angeschlagen – eröffnet diesen Track und verleiht ihm eine unheilschwangere Stimmung. „Musikalisch raffinierter als alles andere auf dem Album“ sei dieser Song, findet Kooper selbst. Als die Session-Band nach der Aufnahme von Ballad of a Thin Man den fertigen Take abhört, bringt es Schlagzeuger Bobby Gregg lachend auf den Punkt: „That is a nasty song, Bob!“
Kooper ergänzt trocken: „Dylan war damals der König der bösen Songs.“ Und tatsächlich: In Ballad of a Thin Man rechnet Dylan mit einem ahnungslosen „Mr. Jones“ ab, der von der verrückten neuen Welt nichts versteht – gemeint sind wohl all die spießigen Journalisten und Kritiker, die Dylans Wandel nicht begreifen. Zeile um Zeile triefen vor Spott und surrealer Komik, während die Orgel unheilvoll wummert. Beim Anhören läuft einem ein kalter Schauer über den Rücken – eine perfekte Momentaufnahme von Dylans damaliger Stimmung: zornig, kryptisch und unangepasst.
Ikonische Songs: Hymnen einer Zeitenwende

Auf der Bühne zuhause: Bob Dylan, Quelle: Flickr, „1964 St. Lawrence College Yearbook of a November 26, 1963 performance by Bobby Dylan.“
Während der Sessions im Juli/August 1965 entstehen fast alle Stücke, die Highway 61 Revisited berühmt machen sollen. Jeder dieser Songs hat etwas Besonderes – schauen wir uns die wichtigsten mal an:
Like a Rolling Stone
Die Entstehung dieses Songs gleicht einem musikhistorischen Urknall. Was als wütender Schriftensturm in Dylans Schreibmaschine begann, endete als fast sechsminütige Rock-Hymne, die mit jedem Konventionsbruch der Popmusik spielt. Von Al Koopers fiebrigem Orgelriff bis zu Dylans kehliger Forderung „How does it fe-e-eel?“ ist der Song pure elektrische Leidenschaft. Hier trifft ein donnerndes Schlagzeug-Intro auf Dylans Spott und Frustration über eine „Miss Lonely“, die vom sozialen Absturz gezeichnet ist.
Kein Liebeslied, kein einfaches Protestlied – Like a Rolling Stone sprengt lyrisch wie musikalisch den Rahmen. „Es war, als ginge plötzlich eine Tür im Kopf auf“, beschrieb später ein gewisser Paul McCartney die Wirkung des Songs auf die zeitgenössischen Musiker; Dylan habe gezeigt, „dass man noch viel weiter gehen kann“. Like a Rolling Stone wird zur Hymne einer neuen, elektrifizierten Gegenkultur.
Ballad of a Thin Man
Im Studio trägt dieser Song zunächst den Arbeitstitel „Messieurs“, doch als Dylan ihn mit bedrohlicher Stimme einsingt, merkt jeder: Dies wird kein gewöhnliches Stück. Untermalt von Dylans eigene Pianoklängen und Koopers geisterhafter Orgel entsteht eine Atmosphäre wie in einem Zirkus der Absurditäten. Ballad of a Thin Man ist Dylan at his nastiest – schneidende Ironie in jeder Zeile, gerichtet an jemanden, der „nicht begreift, was hier vor sich geht“.
Musikalisch fällt die Nummer aus dem Rahmen: langsamer, bluesiger Walzertakt, dazu Dylans kehliges Kreischen im Refrain „Do you, Mr. Jooones?“. Die Band liefert eines der tightesten Arrangements des Albums ab; Bloomfields Gitarre hält sich hier zurück, während Bass und Orgel einen unheimlichen Teppich weben. Viele rätseln, wer Mr. Jones wirklich ist – ein ahnungsloser Journalist? Ein Sinnbild für alle Konservativen, die den Zeitgeist der 60er nicht verstehen? Gerade dieses Mysterium macht den Song so faszinierend. Er fängt den Zeitgeist ein: das Gefühl der „hippen“ Gegenkultur, die mit exklusivem Wissen prahlt, während die biedere Mehrheitsgesellschaft nur Bahnhof versteht.
Desolation Row
Als letzte Nummer des Albums ist dieses Werk ein krasser Kontrast zum Rest: Über 11 Minuten lang zieht Dylan den Hörer hinein in ein akustisches Panorama voller surrealer Figuren und Szenen. Keine E-Gitarre, kein Schlagzeug, stattdessen nur Dylans Stimme, seine akustische Gitarre und zurückhaltende Begleitung – ein verträumter Ausklang nach all der elektrischen Aufregung davor. Die Entscheidung, Desolation Row fast vollständig akustisch aufzunehmen, fiel erst spät: Zunächst hatte Dylan auch diesen Song mit Band probiert, in einer E-Gitarren-Version am 29. Juli. Doch irgendwie passte es nicht – die Stimmung des Stücks verlangte nach etwas Intimerem.
Am 4. August, dem letzten Aufnahmetag, kehrt Dylan zu den Wurzeln zurück: Im Studio sitzt nun neben ihm der Nashville-Gitarrist Charlie McCoy, der zufällig in New York weilt und von Johnston spontan eingeladen wurde. McCoy zupft zarte, fließende Melodielinien auf einer spanisch anmutenden Gitarre, während Dylan dazu inbrünstig singt. Bassist Russ Savakus untermalt dezent mit Bass-Tönen. So entsteht eine fast traumartige Klanglandschaft. In den überfüllten, poetischen Versen von Desolation Row tauchen Zigarren rauchende Schaufensterpuppen, Aschenputtel und Einstein, die opulentesten Bilder und Metaphern fliegen vorbei – ein literarisches Meisterstück, das Kritiker bis heute analysieren. Vielleicht der beste Text, den Dylan je geschrieben hat. Die New York Times schrieb später sogar, es sei „als würde Dylan Gemälde mit Worten malen“.
Stilbruch und Einfluss: Dylans elektrischer Donnerschlag

Im Studio mit Bob Dylan: Die Entstehung von Highway 61 Revisited – bescheidene Anfänge, Quelle: Flickr, „1964 St. Lawrence College Yearbook of a November 26, 1963 performance by Bobby Dylan.“
Mit Highway 61 Revisited schlägt Bob Dylan 1965 ein neues Kapitel auf – nicht nur für sich, sondern für die gesamte Popmusik. Stilistisch ist das Album ein radikaler Bruch zu seinen früheren Werken. Die ersten vier Dylan-Alben waren rein akustisch und fest in der Folk-Tradition verwurzelt; das fünfte (Bringing It All Back Home) experimentierte zaghaft mit elektrischer Verstärkung. Doch Highway 61 Revisited ist Dylans erstes rein elektrisches Album – bis auf das bereits erwähnte letzte Stück – und damit die endgültige Absage an die Rolle des „protestsingenden Barden“.
Kein Banjo, keine Mundharmonika-Intros in Dur: Stattdessen jaulen E-Gitarren, Orgelakkorde schweben und das Schlagzeug treibt unnachgiebig nach vorn. Dylan selbst drückt es in seiner unvergleichlichen Art so aus, dass er seine „alte Musikform hinter sich lassen“ und weiterziehen musste. Der Wandel vollzieht sich dabei nicht nur im Instrumentarium, sondern auch in Haltung und Lyrik. Die Songs auf Highway 61 Revisited sind rauer, zynischer, lauter – aber auch freier. Es ist, als ob Dylan alle Fesseln abgeworfen hat: Er singt, was und wie er will, und interessiert sich einen feuchten Furz für Regeln und Vorannahmen.
Dieser Befreiungsschlag inspiriert eine ganze Generation von Musikern. Plötzlich scheint alles möglich: Lieder dürfen länger sein, Texte dürfen surreal, wütend oder sarkastisch ausfallen, solange die Authentizität stimmt. Bands wie The Beatles lauschen aufmerksam – tatsächlich wird 1965 oft als das Jahr genannt, in dem sich Lennon/McCartney von Dylans avancierten Songtexten beflügeln ließen.
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Gleichzeitig landeten The Byrds mit ihrer elektrischen Folkrock-Version von Dylans Mr. Tambourine Man einen Nummer-1-Hit und bewiesen, dass auch das Publikum bereit war für die Vermählung von Folk-Poesie und Rock-Beat. Dylan treibt diese Vermählung mit Highway 61 Revisited auf die Spitze. Rockmusik, bisher oft „Junge liebt Mädchen“-Themen vorbehalten, erhält plötzlich literarische Tiefe und gesellschaftskritische Schärfe. Noch Jahrzehnte später führen Kritiker das Album in Bestenlisten – etwa Rolling Stone, das Highway 61 Revisited in einer Rangliste auf Platz 18 der größten Alben aller Zeiten setzte. Dylans Wagnis hat sich ausgezahlt: Er hat das Gesicht der Popmusik erneuert.
Natürlich rief dieser Stilbruch auch Widerstände hervor. Als Dylan am 25. Juli 1965 – kurz nach Beginn der Highway 61-Sessions – beim Newport Folk Festival zum ersten Mal vor einem großen Publikum mit E-Gitarre auftritt, erntet er neben Applaus auch Buhrufe. Die Folk-Puristen fühlen sich von ihrem einstigen Helden verraten. Vier Tage vor der nächsten Studiosession hatte das Publikum in Newport Dylans Schritt ins Elektrische lautstark missbilligt. Doch Dylan lässt sich davon nicht beirren. „Es war ein Schlüsselmoment in seiner Karriere“, stellt Harvey Brooks rückblickend fest – Dylan befand sich in der mutigen Transition vom „reinen Folk-Künstler“ zum echten Rock’n’Roll-Performer. Und wer Dylan kennt, weiß: Er bezahlt den Preis der Kontroverse gerne.
Der Einfluss von Highway 61 Revisited auf die Musikwelt der 60er kann kaum überschätzt werden. Das Album klettert in den Charts nach oben (Platz 3 in den USA) und Songs wie Ballad of a Thin Man oder Desolation Row werden zu geheimen Hymnen der Gegenkultur. Junge Songpoeten lernen von Dylan, dass Songtexte keine Grenzen kennen. Plattenfirmen begreifen, dass sechsminütige Orgel-Epen durchaus im Radio laufen können, wenn sie den Nerv der Zeit treffen. Und die Rockmusik insgesamt gewinnt an lyrischer Tiefe und künstlerischem Anspruch.
Eine Legende auf der Leinwand: A Complete Unknown
Fast 60 Jahre später ist die Entstehung von Highway 61 Revisited längst ein Mythos, der auch filmreif ist. Der neue Biopic-Film A Complete Unknown (Regie: James Mangold) greift genau diese turbulente Phase von Dylans Karriere auf und interpretiert sie für ein heutiges Publikum. Der Filmtitel – A Complete Unknown – entstammt bezeichnenderweise dem Refrain von Like a Rolling Stone („…like a complete unknown…“). Es ist jener Moment, in dem Dylan sich selbst neu erfindet und für sein altes Folk-Publikum tatsächlich zu einem Unbekannten wird.
Der Film schildert Dylans Weg von den Anfängen in Greenwich Village bis zu dem Höhepunkt, als er 1965 elektrisch wird. Im Zentrum steht die Dynamik dieser Veränderung: Wir sehen einen jungen Bob Dylan (ziemlich großartig gespielt von Timothée Chalamet) zunächst als gefeierten Folk-Barden und dann, angetrieben von inneren Visionen, die Grenzen sprengen. Insgesamt hatte der Film eher was von einer Montage – weniger spannungsgeladen erzählt, dafür voller Detailverliebtheit und Genauigkeit.
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Der Film beleuchtet auch die Konflikte: die schockierten Gesichter der Folk-Traditionalisten, die hinter der Bühne des Newport Festivals tuscheln, ob Dylan wohl wirklich mit einer Rockband auftreten wird. Die Kamera schwenkt auf Pete Seeger und andere Organisatoren, die sich sorgen, dass ihr Star den heiligen Gral des Folk mit lärmenden Gitarren entweiht.
Als Dylan schließlich in Lederjacke und mit Fender Stratocaster die Bühne betritt, tobt im Publikum ein Sturm der Emotionen. A Complete Unknown interpretiert diese Episode weniger als Skandal, sondern eher als notwendigen Akt der Befreiung: Dylan muss elektrisch spielen, um ehrlich zu bleiben. Timothée Chalamet verkörpert Dylan mit einer Mischung aus Zerbrechlichkeit und Trotz – tolle Performance, die durchaus mit einem Oscar hätte gewürdigt werden dürfen. In einer Szene sagt der Film-Dylan: „I’m just trying to be who I am, man“ – „Ich versuche nur, ich selbst zu sein.“ Dieser Geist durchzieht A Complete Unknown: Der Film feiert Dylans Mut, unbeirrt seinen eigenen Weg zu gehen, und zeigt, wie Highway 61 Revisited dabei der klingende Beweis dieser Verwandlung war.
Fazit: Das Lebensgefühl der 60er im Klang eingefangen
Was bleibt also übrig? Highway 61 Revisited ist mehr als nur ein Album – es ist ein Stück Zeitgeschichte, eingefangen in Musikform.
In jener Ära des Umbruchs – Vietnamkrieg in der Ferne, Bürgerrechtsbewegung auf den Straßen, LSD im Umlauf und Beatles auf dem Plattenteller – liefert Bob Dylan mit Highway 61 Revisited den Soundtrack zum Zeitenwandel. Die Studioanekdoten, sei es Koopers geschummelte Orgeleinlage oder Dylans stoisches Ignorieren aller Konventionen, zeigen eindrücklich, wie Leidenschaft und Zufall in der Kunst zusammenfinden. Wenn wir heute diese Songs hören, fühlen wir noch immer etwas von der Aufbruchsstimmung, die 1965 im Studio A herrschte.
Und so steht dieses Album am Ende sinnbildlich für das, was die 60er-Jahre ausmachte: den Mut, Neues zu wagen, das Alte hinter sich zu lassen und im Chaos der Veränderung Schönheit zu finden. Bleibt Bob Dylan a „complete unknown“? Ein Stück weit, ja. Der Mann hinter dem Künstler bleibt „unknowable“. Und das ist vielleicht gut so.
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Danke für Deine Rückschau, Dimitri.
Passte sich gut, weil ich für heute 16.50Uhr „A Complete Unknown“ gebucht habe.
Habe mir den Film auch angesehen. Bin alt genug um die Zeit selbst erlebt zu haben. Ist gut eingefangen, gut gespielt. Top besetzt. Damals mochte ich Dylan nicht, habe aber die top Interpretationen anderer Musiker gut gefunden. Hendrix, Nice, Byrds etc. Die Reaktionen des Publikums in Newport wirkten im Film schon leicht borniert. Das gab es noch x-mal früher und später, wenn die Hüter des Genres eine Verfehlung der ihrer Meinung nach in Stein gemeisselten Richtlinien verletzt sahen. Kleingeister halt.
@Tai Bob Dylan ist mir zunächst in der vom ZDF restaurierten Fassung des Westerns »Pat Garret jagt Billy the Kid« aufgefallen (Rolle: »Alias«, »Geh‘ mal zum Regal und lies‘ vor, was da auf den Konservendosen steht!«). Dass er ein berühmter Musiker ist, erfuhr ich erst später. Seine Musik machte mich damals auch nicht so wirklich an. Das kam erst jetzt, in den letzten paar Jahren.
Ich LIEBE solche Artikel; vielen Dank dafür.
Mit meiner Musik hat das zwar erst einmal gar nichts zu tun. Allerdings … wenn man die Intention vom Herrn Dylan nimmt, dann finde ich mich da schon wieder. Ich versuche mit meiner eigene Musik ebenfalls etwas auszudrücken, allerdings deutlich abstrakter. Genau genommen bin ich noch nicht dort – noch lange nicht – wo ich eigentlich gerne wäre. Die Frage ist auch, ob ich überhaupt jemals ankomme und wenn ja, ob es nicht in genau dem Moment langweilig wird. Dieser Artikel zeigt mir jedenfalls wieder einmal, dass man auf jeden Fall einfach etwas wagen muss.
Bob Dylan ist für mich:
Tod des „echten“ Rock`n`Roll
Anfang vom Hippie Kult mit Drogen, Null Bock und hässlicher Mode
langweiliges Gesäusel in einer Tonlage und Soundtrack zum Suizid
nee, lass mal!
@Mick Was ist denn echter Rock ’n‘ Roll? Da kann ich mir gar nichts drunter vorstellen.
@Tai „echter“ Roch`n`Roll entstand Anfang der 50er, aus einer Mischung von Country, Rhythm and Blues, Gospel und Hillbilly.
Durchbruch durch Bill Haley (1955) mit z.B. Shake, Rattle and Roll und allen Künstler unter SUN Records. Jerry Lee Lewis, Elvis, Perkins, Cash, Burgess usw.
Schnelle, tanzbare, zweideutige Musik im 4/4 Takt, mit power Interpreten/Entertainern.
Bob Dylan war ein kommunistischer Folksänger, ein Leonard Cohen mit Gitarre (die Mundharmonika haben sie sich ja geteilt)…oder ist der auch Rock `n` Roller !?😂
@Mick Irgendwie dachte ich mir, daß da jemand in einer Zeitschleife der 50er hängengeblieben ist. Es gibt sie also immer noch, die Orthodoxen des Rock’n’Roll, wo das Reaktionäre um die Ecke lugt.
Auch wenn der Untertitel von Dimitri „Ein Wegweiser des Rock’n’Roll“ lautet, war Dylan nie ein Rock’N Roller, hätte diese Einordnung für sich immer abgelehnt, wurde aber vom Rock’N Roll inspiriert, besonders von Buddy Holly.
Das Statement „Bob Dylan war ein kommunistischer Folksänger“ ist die Lachnummer des Tages.
„Leonard Cohen mit Gitarre (die Mundharmonika haben sie sich ja geteilt)“
Mick, nenne doch bitte mal nur einen Titel von Cohen, wo er Harp spielt, mir fällt selbst nach angestrengtem Überlegen kein einziger ein.
@jmax https://de.pinterest.com/pin/233694668139956391/
Dylan? …google mal nach seinen Vorbildern
@Mick „Echter“ Rock’N Roll? Lass doch mal hören was du darunter verstehst.
@jmax „Major“ Mick antwortet nicht mehr. Laut Avatar ist er abgehoben, was in übertragener Weise auch für seinen Post gilt. Gute Reise.
@Mick Hässliche Mode, Drogen ,Null Bock und Soundtrack zum Suizid das erinnert mich aber eher an die 80er Punkmusik 😜
Vielen Dank für den schönen und informativen Artikel. Dylans Einfluss auf die Pop- und Rockmusik kann nicht geleugnet werden, Lennon und Mc Cartney haben ihn ja auch damals schon immer als Inspiration angegeben. Ich hab ihn in den späten 70ern entdeckt, da meine ältere Schwester das Desire Album (mit Emmylou Harris) rauf und runter gedudelt hat. In den späten 80ern gabs ja die Travelling Wilburies, die Supergroup um Jeff Lynne, George Harrison, Roy Orbison, Tom Petty und eben Bob Dylan. Da ist er mir noch mal aufgefallen. Das war wohl sehr ungewöhnlich für ihn, da er schon immer als sperrig und zurückgezogen galt.