AMAZONA-Autor Martin Andersson: Meine zehn wichtigsten Alben
Welche zehn Alben mich am stärksten geprägt hätten, wollte Peter, unser Chefredakteur, von mir wissen. Ob ich denn nicht auch wie die meisten meiner Kollegen eine solche Liste erstellen könnte? Leichter gesagt als getan. Am folgenden Artikel habe ich über die Zeitspanne von mehr als einem Jahr immer wieder Abschnitte ergänzt und andere gelöscht. Es war eine spannende Reise in meine Vergangenheit, ich versuchte mich in mein kindliches Ich zurückzuversetzen, erinnerte mich, wie ich zusammen mit meinen Brüdern vor dem Kassettenrekorder saß, um Kinderlieder anzuhören, aber ebenso Peter und der Wolf von Prokofiev, The Wall von Pink Floyd und Glenn Miller.
Die folgenden zehn Alben sind so etwas wie das Best-of meiner persönlichen Inspiration und weniger ein Spiegel dessen, was ich einfach nur zum Spaß hörte. Einige der Alben hörte ich nur selten, dennoch hatten sie alle starken Einfluss auf meine eigene Musik. Genug der einleitenden Worte, welches sind sie denn, meine zehn prägendsten Alben?
Inhaltsverzeichnis
- 1. Pink Floyd – Obscured by Clouds
- 2. Mani Matter: Ir Ysebahn („In der Eisenbahn“)
- 3. Hawkwind: It is the Business of the Future to be Dangerous
- 4. Dave Matthews Band: Song TWO STEP (Live in New York)
- 5. Miles Davis: Kind of Blue
- 6. Double: The Captain of Her Heart (Song)
- 7. Jacques Loussier: Play Bach Volume 1/2
- 8. João Gilberto & Stan Getz: Getz/Gilberto
- 9. Jean-Michel Jarre: En attendant Cousteau
- 10. Nils Petter Molvaer: Khmer
1. Pink Floyd – Obscured by Clouds
Pink Floyd war eine der ersten Bands, die ich kannte. Mein älterer Bruder hatte sich das damals neu erschienene Album THE WALL gewünscht. Gebannt lauschten wir den fremdartigen Klängen; er war zehn, ich sieben und unser jüngster sechs. Prägend war es für uns alle, Pink Floyd wurde für uns drei eine der wichtigsten Bands. In der Jugend hörten wir alle Alben rauf und runter, natürlich auch die Klassiker, die ich hier nicht namentlich zu erwähnen brauche. Ein Album hatte es mir besonders angetan: Obscured by Clouds, der Soundtrack zum französischen Film La Vallée.
Es ist ein eher unbekanntes Album, bekannte Songs wird man darauf keine finden. Auch keine besonderen Effekte: kein Orchester wie auf Atom Heart Mother, keine Stimme, die sich zum Synthi-Ton wandelt wie bei Animals, kein perfektionistisches und ausgeklügeltes Sounddesign wie auf Dark Side of the Moon. Stattdessen: schöne, interessante, inspirierende und vor allem eingängige Songs. Aufgenommen wurde dieses kleine musikalische Wunderwerk in nur zwei Wochen in einem Pariser Studio. Pink Floyd hatten dazu die Arbeit an ihrem Monumentalwerk Dark Side of the Moon unterbrochen.
Der Anfang des Albums ist fulminant: ein tiefes a vom EMS Synthi A mit knarzender Sägezahnschwingungh. Dazu ein eingängiger Beat vom Schlagzeug und im Hintergrund eine Conga. Eine leicht verzerrte Gitarre spielt ein simples Thema: Vier Schläge E, ein Takt Pause. Vier Schläge D, zwei Synkopen (H und G) und schließlich ein A. So einfach geht das: Quinte, Quarte, Grundton. Als ob die Grundelemente der Musik erstmal eingeführt werden müssten. Vom ersten Ton an nahm mich dieses Album in Bann. Umso mysteriöser das Ende: Zu einem überlangen Fade-Out der Band gesellt sich ein (marokkanischer ?) Chor, dessen Gesang weit von dem entfernt ist, was man musikalisch sauber und gut intoniert nennen würde und trotzdem durch pure Schönheit besticht, um plötzlich, ohne jede Vorahnung, abzubrechen. Bezaubernd und verstörend zugleich.
Zwischen diesen beiden Polen von Anfang und Ende entspinnen sich insgesamt zehn Songs, zwischen Rock’n’Roll, jazzig-debussy-artigen Balladen, psychodelischen Sounds und Feel-Good-Musik. Ab und zu fällt die Musik fast etwas ins Seichte und Banale ab, was ich aber stets als sympathisch empfand. Aus meiner Sicht das vielleicht untypischste Floyd-Album.
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2. Mani Matter: Ir Ysebahn („In der Eisenbahn“)
Den Liedermacher Mani Matter kennt in der Deutschschweiz de facto jeder und anderswo nahezu niemand, was auch damit zusammenhängen mag, dass er ausschließlich auf Berndeutsch sang. Als er 1972 mit 36 Jahren bei einem Autounfall ums Leben kam, hatte er vier Alben veröffentlicht und ca. 100 Lieder geschrieben, die die Deutschschweizer Musikkultur bis heute prägen und zum Allgemeingut geworden sind. Ob im Schulunterricht, einer Casting Show oder auf der Bühne der großen Mundart-Rockbands: Mani Matter ist omnipräsent.
Der promovierte Jurist, der eigentlich Hans Peter Matter hieß, bewies sich als feiner Beobachter mit Sinn für Widersprüche und Ironie. In einem seiner letzten Lieder („Nei säget sölle mir“ / Sagt mal, sollen wir), von dem keine Aufnahme von ihm selbst existiert, beschreibt er unsere Zivilisation, als eine der „gottvergessenen Städte“, wo man warten müsse, bis einem ein grünes Licht die Erlaubnis erteile, die Straße zu überqueren und wo man arbeiten müsse wie „ein Rädchen in einer Maschine“. Rhetorisch fragt er, ob wir nicht von anderen Dingen träumen sollten „als bestenfalls von ein bisschen Urlaub irgendwo an einem Meer“, wo man Kriminalromane lese unter Palmen, um zu sehen, wie das Leben sein könnte, wenn es interessanter wäre. Im kurzen Refrain wirft er die Frage auf, ob dies der Endpunkt sei einer „Entwicklung von fünf tausend Jahren“. Gesellschafts- und Konsumkritik der leisen Art.
Mani Matter schuf musikalisch-literarische Miniaturen von besonderem Wert. Beispielsweise gelang es ihm, das Dilemma des ungleichen globalen Reichtums in wenigen Zeilen zu beschreiben (“Dene wo’s guet geit” / Wem es gut geht). Geradezu kafkaesk wirkt ein Lied über einen namenlosen Herrn, der auf einem Amt persönlich erscheinen müsse, “um neun Uhr im Büro 146″, das er indes nie finden wird. Während des gesamten Liedes sucht er verzweifelt nach jenem Raum, geht Treppen hoch und runter, folgt leeren Korridoren, biegt um Ecken ab, versucht sich zu erinnern, wo er schon überall war, um sich schließlich komplett in der Bürokratie zu verlieren („und isch nie meh ume cho“ / und kam nie zurück).
Im Lied „Chue am Waldrand“ singt er über einen Sonntags-Maler, der auf der Suche nach einem passenden Motiv übers Land wandert. Seine Wahl fällt auf eine Kuh, und wie es sich für einen geübten Künstler gehört, malt er erst den Hintergrund, um sich schließlich dem eigentlichen Motiv, nämlich der Kuh, zu widmen, die, man ahnt es bereits, mittlerweile weitergezogen ist und eine Lücke in seinem Bild hinterlässt („Das uverschämte Tier isch usegloffe us sim Bild“). Aus dieser kleinen Szene entspinnt Mani Matter seine Gedanken zum Umgang des Menschen mit seiner Umwelt, die sich eben nicht nach unseren Vorstellungen richtet.
Mani Matter kultivierte das Einfache und führte die Musik auf ihren Kern zurück: eine Botschaft, eingängig und gefühlvoll verpackt. Seine Lieder sind erstaunlich kurz und musikalisch simpel gehalten mit einfachen Melodien und Begleitungen. Matter war weder Gesangs- noch Gitarrenvirtuose und trat nur solo auf. Er zeigte, dass ein gutes Lied nicht nur aus Text und Musik besteht, sondern erst durch deren Zusammenspiel seinen wahren Wert entfaltet, wie in seinem „Lied vo de Bahnhöf“: eine literarisches Bild eines Provinzbahnhofs, das auch in die heutige Zeit passen würde, wenn man vom gängigen Rauchverbot absieht. Matter singt von verlorenen Seelen an einem Bahnhof, wo die Zeit stillzustehen scheint, bis schließlich mit viel Getöse ein Schnellzug vorbei fährt, was er auf einfache und eindrückliche Weise musikalisch umsetzt (bei Minute 2:05)
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Mani Matter war der erste Liedermacher, den ich kannte und liebte, später kamen viele weitere dazu: Gerhard Gundermann, Ludwig Hirsch, Simon & Garfunkel, Nick Cave, Leonhard Cohen, Konstantin Wecker, Francis Cabrel … – singende Komponisten, denen der Text mindestens ebenso wichtig ist wie die Musik selbst und die ihre komplexen Botschaften in (vermeintlich) einfache Arrangements verpacken, habe ich immer bewundert.
3. Hawkwind: It is the Business of the Future to be Dangerous
Die britische “Space-Rock” Band Hawkwind lernte ich durch meinen Vater kennen. Als Kind war mir diese Musik zu hart und abstrakt, aber dennoch faszinierend. Als 1993 ihr Album “It is the Business of the Future to be Dangerous” erschien, konnte ich mich dem Sog nicht mehr erwehren: Klangcollagen aus kalten Synthesizer-Flächen und Chören, dazwischen treibende Beats. Die Musik entwickelt sich langsam, die Arrangements folgen keinen Konventionen. Hypnotisch, meditativ, antreibend und irgendwie nicht von dieser Welt.
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4. Dave Matthews Band: Song TWO STEP (Live in New York)
Das nächste ist kein Album, sondern ein einzelner Song des amerikanischen Folkmusikers Dave Matthews. Two Step ist für mich ein Beispiel eines gut gelungenen Grooves, der interessanterweise von der Strophe zum Refrain von einem sehr betonten Off-Beat zu einem Half Time mit Down-Beat wechselt. Das hört man eher selten, ist aber nicht der Hauptgrund, weshalb ich diesen Song so mag.
Erstmal ist da die Band: Sieben Musiker, die perfekt aufeinander eingespielt sind. Jeder spielt nur das Nötigste, während sich die einzelnen Phrasen und Licks zu einem pulsierenden Groove zusammensetzen. Man nimmt sich Zeit für ein ausgiebiges Intro: eine entspannte Steigerung mit einem melodiösen Basssolo und ein bisschen Gesang, wobei Daves Falsett vielleicht Geschmackssache ist. Nach knapp zweieinhalb Minuten setzt der eigentliche Groove ein. Offbeat in Reinkultur. Man spielt drei Strophen samt Refrain, mit geschmackvollen Zwischenspielen.
Nach dem dritten Refrain wird der Groove über mehrere Stufen reduziert und erreicht bei Minute 7:10 sein Minimum, um Platz zu schaffen für ein ausgiebiges Solo. Was der Keyboarder Butch Taylor von sich gibt, halte ich für eines der besten Pianosoli der Pop- und Rockgeschichte überhaupt. Über die Dauer von fünf Minuten steigert er sich von einfachen Licks zu komplexen, polyrhythmischen Strukturen und Salsa Grooves. Dabei spielt er auch ganz bewusst Pausen: Phrase – Pause – Antwort – Pause. Das wirkt strukturiert und logisch aufgebaut. Improkunst in Perfektion. Beachtlich ist aber auch die Begleitung der Mitmusiker, die ihn förmlich durchs Stück tragen und seinen Steigerungen in jedem Takt und in jedem Schlag folgen, ohne ihn dabei zu überdecken, was bei Klavierklängen keine Selbstverständlichkeit ist (ein Minimoog oder eine verzerrte E-Gitarre kann sich immer gegenüber einer Band behaupten, das Klavier geht eher unter). Wie Carter Beauford am Schlagzeug jede rhythmische Variation des Keyboarders mitspielt, unterstützt und zum Teil vorausahnt, gehört für mich zum Besten, was in der improvisierten Musik möglich ist. Nach einem kurzen Ausflug ins Salsa Genre kommt man zu einem gemeinsamen Höhepunkt (12:20), um danach den Groove wieder abzubauen. Alles wirkt natürlich, frisch und eingespielt.
Der Song ist damit aber noch nicht zu Ende: Es folgt ein Schlagzeug-Solo, das bei aller technischer Finesse stets groovig und transparent bleibt. Zum Ende hin tendiert Carter Beauford zur Demonstration der eigenen Fähigkeiten. Nach meinem Geschmack wäre weniger mehr gewesen, aber es sei ihm gegönnt. Eindrücklich ist das Solo auf jeden Fall und wirkt leicht und entspannt. Gefühlt ein Sonntagsspaziergang (mit Kaugummi). Man wird das Gefühl nicht los, dass diese Musiker besser sind als sie spielen und ihr technisches Können nur selten auf der Bühne ausreizen.
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5. Miles Davis: Kind of Blue
Miles Davis gehört (nicht nur für mich persönlich) zu den wichtigsten Musikern des 20. Jahrhunderts. Er war der Erneuerer und Wegbereiter im Jazz und erfand sich immer wieder neu, vom Bebop Ende der 40er-Jahre bis zu seinem letzten Album: ein Hiphop Album in Zusammenarbeit mit dem Producer Easy Mo Bee, das 1992 nach seinem Tod veröffentlicht wurde. Dazwischen prägte Miles Davis zahlreiche Stile, darunter Cool Jazz, Rock Jazz und Fusion. So unterschiedlich seine Musik war, blieb sein zarter Trompetenklang immer unverkennbar. Technisch betrachtet gab es versiertere Trompeter als Miles, aber sein Sound und seine Musikalität waren unerreicht. Zudem hatte er ein goldenes Händchen für junge Talente. Viele bekannte Jazzmusiker spielten bei Miles: John Coltrane, Bill Evans, Herbie Hancock, Wayne Shorter, Keith Jarrett, Chick Corea, John McLaughlin, Joe Zawinul, Mike Stern, Marcus Miller … Die Liste kann beinahe endlos fortgeführt werden. Miles suchte immer wieder neue Musiker, mit denen er ein paar Jahre tourte und einige seiner über 50 Studioalben aufzeichnete, um danach wieder eine neue Band zu gründen. Für mich ist Miles Davis vergleichbar mit Picasso, der über sein langes Leben hindurch verschiedene Epochen und Stile (mit-) begründete. Und so ähnlich gibt es auch bei Miles eine „blaue“ Periode. Gemeint ist sein Album Kind of Blue, das 1959 veröffentlicht wurde. Es gilt allgemein als eines der wichtigsten, wenn nicht als das wichtigste Jazzalbum überhaupt.
Doch was macht Kind of Blue so besonders? Zum einen seine entspannte Stimmung, so dass auch die groovigen Songs nie hektisch oder in irgendeiner Weise angestrengt wirken. Die Musik ist größtenteils improvisiert und wirkt frisch, bleibt dabei aber immer tonal. Es gehörte zu Miles‘ Konzept, dass nur wenig geprobt wurde. Die Stücke waren alle neu für die Band, man verständigte sich kurz im Studio, ehe die Aufnahme begann. Aufgenommen wurde das Album an nur zwei Tagen (am 2. März und 22. April 1959) in teils unterschiedlichen Besetzungen.
Die fünf Stücke wurden alle Klassiker des Jazz, allen voran So What und die Ballade Blue in Green. So What besticht durch Einfachheit: ein simples Thema in D-Dorisch, vom Bass gespielt, streng aufgebaut nach einem Frage-Antwort Schema (Call – Response) mit kurzen Einwürfen der Band. Das Ganze wird wiederholt, ehe das Thema, sozusagen als B-Teil, einen Halbton höher transponiert wird, um am Schluss wieder in der Originaltonart (D-Dorisch) zu erklingen. Dadurch ergibt sich eine AABA-Form, bestehend aus 16 Takten D-Moll, 8 Takten Es-Moll und nochmals 8 D-Moll. Simpler geht es kaum, was zum Spielen übrigens gar nicht so vorteilhaft ist, da man sich auf keinen Fall verzählen sollte; als Solist und Begleiter braucht man ein gutes Gefühl für die 8-taktigen Elemente. Das Thema von So What eignet sich auch für funkige oder Hiphop Grooves und wurde immer wieder gespielt und aufgenommen. So What wurde zum zeitlosen Klassiker.
Auch Blue in Green ist simpel, aber auf ganz andere Art. Das Thema ist erstaunlich kurz und besteht aus 10 Takten, die um zwei tonale Zentren kreisen: In den ersten sieben Takten empfindet man D-Moll als die Grundtonart und in den letzten drei A-Moll. Somit kommt das Stück nie zu einem gefühlten, natürlichen Ende. Es dreht sich immer weiter, wie eine endlose Spirale, so dass man sich darüber verständigen muss, an welcher Stelle man Blue in Green beenden möchte.
Die Melodie ist so einfach wie möglich gehalten, mit langen Tönen, die aber meistens sogenannte Spannungstöne zu den Akkorden bilden: eine große Sext über G-Moll (die einen Tritonus zur Terz bildet), eine übermäßige None über A7 (#9) oder eine übermäßige Quarte (Tritonus, #11) über Bb. Alles „Dissonanzen“, die aber von der fortschreitenden Harmonie wieder aufgefangen werden.
Die Band spielt das Stück erst als Ballade, um im Piano-Solo von Bill Evans zweimal das Tempo zu verdoppeln, was technisch nicht ganz ohne ist. Obwohl offiziell eine Miles Davis Komposition, gilt es aber als gesichert, dass er nur die ersten zwei oder drei Akkorde beisteuerte und Bill Evans in der Nacht vor der Aufnahme das Thema und den Rest des Stückes schrieb. Als Kompensation habe ihm Miles 20 oder 50 Dollar angeboten. Miles Davis‘ Charakter war leider zweifelhaft.
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6. Double: The Captain of Her Heart (Song)
Ich bin ein Kind der 80er-Jahre und bei aller Liebe zum Jazz bin ich eben auch mit Tina Turner, Madonna, Nena, Sinéad O’Connor, Prince, Peter Gabriel, Michael Jackson, Talk Talk, A-ha, Cindy Lauper, Peter Schilling, Nena, Duran Duran, Cock Robin und vielen anderen Popgrößen aufgewachsen. Es war eine besondere Zeit: Neue Alben wurden im Freundeskreis angehört und besprochen und zusammen schauten wir die ARD-Sendung “Formel Eins”, die uns wöchentlich neue Popmusik vorstellte.
Beispielhaft für diese Musik möchte ich hier einen weniger bekannten Song vorstellen, einen der raren Beiträge der Schweiz zur globalen 80er Popmusik: The Captain of Her Heart von Double, das 1985 immerhin Platz 8 der UK-Charts belegte.
Der Song beginnt mit einem entspannten Beat, einer Synthesizer-Fläche und einer einfachen Melodie, die ursprünglich für einen Oberheim gedacht war, dann aber auf Wunsch des Produzenten auf dem Klavier gespielt wurde. Dazu ein paar Phrasen vom Sopransaxophon, ehe die Strophe beginnt. Zum Refrain folgt ein Tonartwechsel von Bb-Moll nach C-Dur und eine leichte Double-Time Begleitung auf der Gitarre, die dem Song einen angenehmen Schub verleiht. Der Song wird dichter und bleibt dennoch transparent. Die zweite Strophe ist instrumental mit einem einfachen Piano-Solo, ehe der Refrain wieder angespielt wird.
Natürlich ist diese Musik glatt, massentauglich und gefällig und hat dennoch etwas Eigenständiges. Besonders gefällt mir, wie die drei akustischen Instrumente Gitarre, Klavier und Saxophon integriert werden. Und nur nebenbei bemerkt war das Sopransaxophon-Solo von Christian Ostermeier nicht ganz unschuldig daran, dass ich später nebst Klavier auch Saxophon lernte.
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7. Jacques Loussier: Play Bach Volume 1/2
1985 jährte sich Johann Sebastian Bachs Geburtstag zum 300. Mal, was ausgiebig in der Kulturwelt gefeiert wurde, bis hin zu einer Samstag-Abend Show am deutschen Fernsehen, an die ich mich noch gut erinnere. Ich war damals zehn und meine Mutter schenkte mir zum Geburtstag zwei Alben, mit denen ich auf den ersten Blick nicht viel anfangen konnte: Jacques Loussier Play Bach Volume 1 und 2.
Auf der Rückseite ein Foto seines Pianotrios mit dem Bassisten Vincent Charbonnier und dem Schlagzeuger André Arpino.
Als ich die Platte zum ersten Mal hörte, hatte sie mich sofort in ihrem Bann: Die drei Männer spielten bekannte Stücke von Bach als Jazz-Trio mit Swing-Phrasierung, interessanten Reharmonisationen und ausgiebigen Soli. So genau konnte ich das damals natürlich nicht benennen. Ob Inventionen, das berühmte erste Präludium aus dem wohltemperierten Klavier oder das vermeintlich kitischige Air – Loussiers Trio machte aus allem etwas Modernes und Packendes.
Heute sehe ich Loussiers Kunst etwas kritischer, bei einigen Arrangements finde ich, dass er sich zu stark vom Original entfernte. Mühe bekunde ich vor allem mit seiner Aussage, er spiele Bachs Musik so, wie dieser sie selbst spielen würde, wenn er heute lebte. Woher will er das wissen? Aber egal: Loussier ist und bleibt ein hervorragender Pianist, der mit seinem leichten, flüssigen und kreativen Spiel interessante Bearbeitungen von Bach und auch anderen Komponisten veröffentlichte.
Er öffnete meinen Blick zur klassischen Musik, die für mich heute die wichtigste Inspirationsquelle für meine eigenen Stücke ist. Durch ihn lernte ich die Unterschiede in der Denkweise zwischen Jazz und klassischer Musik kennen. “The classical pianist is reciting poetry whereas the jazz pianist is having a conversation”, wie kürzlich jemand treffend in einem Forum schrieb.
Bach wird von vielen Musikern verehrt, gerade auch im Jazz. Seine Harmonien wirken zeitlos modern mit Sept- und Nonenakkorden: Major 7, Dominant 7 b9, Verminderte, Übermäßige etc. All das gibt es bei Bach zu entdecken, womit jedem klar sein sollte, dass es keine „Jazzakkorde“ gibt. Bei Bach, Mozart, Wagner und Debussy finden sich die gleichen Harmonien wie bei Miles Davis, Genesis und Michael Jackson, natürlich in anderem Kontext, Phrasierung und Instrumentierung, aber die harmonischen Bausteine sind dieselben. Für mich ist Bach die Verkörperung von Schönheit, Klarheit und Präzision, kombiniert mit feinen Grooves. Oder wie der Gitarrist Pat Metheny in einem Interview meinte: „… compared to Bach, man we all suck.“
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8. João Gilberto & Stan Getz: Getz/Gilberto
Wenn es ein Album gibt, das mein Leben und mein Musikerdasein am stärksten prägte, dann wäre es wahrscheinlich Getz/Gilberto: das epochale Bossa-Album des Saxophonisten Stan Getz und des brasilianischen Sängers João Gilberto (zusammen mit dem Komponisten Antonio Carlos Jobim am Klavier). Schließlich war es der Hauptgrund, dass ich mit 20 Jahren für ein Jahr nach Brasilien zog. Das Album gilt als eines der meistverkauften des Jazz und machte Bossa Nova über Nacht zu einem globalen Phänomen. Bossa sei eine Art „Wohnzimmer-Samba“, wie mir ein Musiker in Brasilien einmal erklärte: rhythmisch komplex, aber filigran gespielt.
Die prägenden Figuren waren damals Antonio Carlos Jobim, der einige der bekanntesten Bossa Stücke komponierte, und der Sänger und Gitarrist João Gilberto, dessen nasaler Gesang kombiniert mit feinsten rhythmischen Verschiebungen zu seinem Markenzeichen wurde. Er war ein Meister der rhythmischen Verzahnung von Melodie (also seinem Gesang) und der Begleitung auf der Gitarre. Bei ihm stimmt jede Silbe, jede noch so nebensächliche Ghost-Note ist präzise gesetzt und phrasiert. Meiner Meinung nach gibt es nur wenige Musiker, die so angenehm und entspannt grooven wie João Gilberto. In Stan Getz fand er einen kongenialen Partner, der mit seinem luftigen Sound am Tenorsax interessant und nachvollziehbar improvisierte. Seine Soli driften nie zu einer Demonstration des eigenen Könnens ab, sondern bleiben transparent mit einfachen, aber interessanten Melodiebögen und Überleitungen. Außerdem hat er ein gutes Gefühl für Pausen, so dass die Musik nie überladen wirkt. Dabei ist es keineswegs leicht, über diese Stücke zu improvisieren. Viele der bekannten Bossa-Kompositionen sind harmonisch komplex aufgebaut mit vielen Modulationen und Tonartwechseln. Jobims klassische Ausbildung prägte seine Musik, mit Anspielungen an Komponisten wie Ravel, Debussy oder auch Anton Bruckner. Dass auf YouTube Stan Getz als Komponist der Stücke genannt wird, ist ein schönes Beispiel dafür, wie sich Falschinformationen im Netz verbreiten. Stan Getz hat kein einziges dieser Stücke geschrieben, sechs der acht Titel stammen aus der Feder von Jobim, die anderen von Dorival Caymmi und Ary Barroso, zusammen mit verschiedenen Textern.
Getz/Gilberto war mein erster Kontakt zur brasilianischen Musik, die noch so viel mehr bietet als nur Bossa, z. B. den Stil „Club da Esquina“ aus Minas Gerais, eine Art Popmusik mit komplexen Harmonien und verschachtelten Rhythmen. Oder die wunderbare Perkussionsgruppe Uakti, die auf selbstentwickelten Instrumenten meditativ-rhythmische Musik spielen mit Anspielungen bei Philip Glass. Und natürlich nicht zu vergessen, die Überväter der brasilianischen Musik der letzten 50 Jahre: Gilberto Gil und Caetano Veloso.
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9. Jean-Michel Jarre: En attendant Cousteau
Ich gebe zu, dass ich bei aller Liebe zu Synthesizern mit elektronischer Musik im eigentlichen Sinne lange Zeit nicht viel anfangen konnte. Und so war ich auch nie ein Fan von Jean-Michel Jarre. Seine epochalen Werke wie Oxygene oder Equinoxe ließen mich auf seltsame Art kalt, wobei ich das musikalische Können Jarres nie infrage stellte. Doch 1990 hörte ich bei einem Freund zum ersten Mal En attendant Cousteau, was für mich eine neue Erfahrung war. Nach den drei eher konventionellen Musik-Stücken Calypso 1 bis 3 folgt nämlich das Titelstück des Albums: eine dreiviertelstündige Klangcollage als Hommage an den berühmten Ozeanographen Jacques-Yves Cousteau. Das Stück, wenn man es denn überhaupt so nennen kann, ist eine akustische Unterwasserlandschaft zwischen Geräuschen und Klängen, ein Soundscape, wie man heute so schön sagt. Musikalische Elemente wie Melodien und Harmonien verschwimmen zu einem Hörerlebnis, das für mich am ehesten noch als Meditationsmusik durchgehen würde. (Denn mit Verlaub: das Meiste, was heute als „Meditationsmusik“ angepriesen wird, ist derart seicht und vorhersehbar, dass sie mich nur nervös macht.) In Jean-Michel Jarres Komposition lösen sich Zeit und Raum auf, das Stück folgt dabei keiner offensichtlichen Dramaturgie, sondern ist eher ein Zustand. Vielleicht vergleichbar mit Werken des Komponisten György Ligeti (zu hören im Film 2001: A Space Odyssey), der auch Klanggebilde ohne Rhythmus schuf, die indes viel intensiver und drückender wirken. En attendant Cousteau hingegen changiert zwischen Geräuschen, Klängen und Stille und inspirierte mich bei meinen eigenen Klanginstallationen. Zudem ist es bis dato die einzige Musik, die ich zum konzentrierten Arbeiten oder Lesen hören kann. Alles andere lenkt mich zu sehr ab.
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10. Nils Petter Molvaer: Khmer
So ganz kann man seine Herkunft ja nie leugnen: Durch meinen schwedischen Vater war ich schon früh mit der nordischen Jazzszene vertraut. Jan Garbarek und Terje Rypdal waren Ikonen meiner Jugend mit ihrem kühlen, melancholischen aber auch kraftvollen Sound. Ebenso der Pianist Jan Johansson, der Anfang der 60er-Jahre ein epochales Album schuf: Jazz på Svenska (“Jazz auf Schwedisch”) enthält seine Bearbeitungen schwedischer Volkslieder, gespielt im Duo mit Klavier und Kontrabass. Das Album verkaufte sich laut Wikipedia über 1 Million Mal und wurde vom Rolling Stone Magazin 2013 auf die Liste der 100 wichtigsten Jazz-Alben gewählt (Platz 57).
Der skandinavische oder nordische Jazz hat mich immer wieder aufs Neue fasziniert. Eine wichtige Rolle spielte dabei auch das deutsche Label ECM von Manfred Eicher, der viele skandinavischen Musiker förderte. 1997 erschien das Album des damals eher unbekannten norwegischen Trompeters Nils Petter Molvaer mit einer Mischung aus Jazz und elektronischer Musik. Lyrische Linien auf der Trompete treffen auf treibende Beats. Melancholisch, hypnotisch, tanzbar.
Zweimal sah ich Nils Petter Molvaer im Konzert. Er trat im Quintett auf mit Bass, E-Gitarre, Schlagzeug und Elektronik und zeigte sich als Meister der spannungsvollen Dramaturgie mit beinahe endlosen Steigerungen von leichten Grooves bis zu schweren Drum’n’Bass Beats. Ähnlich einem Rave, aber alles live gespielt. Ekstase pur.
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Danke, wieder einmal eine interessante Liste, Überschneidung zu meiner Musikauswahl: etwa 10% ;)
(Floyd und JMJ grundsätzlich ja, aber andere Alben).
Beim Anhören von Dave Matthews dachte ich mir zuerst: Joe Jackson müsste eigentlich was für Dich sein, speziell Body and Soul und A Big World. Zweiter Gedanke: Joe Jackson gefällt *mir*, während Davis, Getz, Loussier und Molvaer so gar nicht mein Ding sind (wg. zu verkopft / schwierig-um-des-schwierig-sein-willens) – wahrscheinlich wäre Joe Dir zu geerdet / normal? Wenn Du magst, dann hör Dir doch mal Heart of Ice an.
JMJ war keiner, der mich je interessiert hat. Geht mir vielleicht ähnlich wie dir. Habe punktuell in dein Beispiel reingehört und werde ihm zumindest mit dieser Platte noch mal mein Ohr schenken. Ist ähnlich wie bei Tangerine Dream, no Interest, aber nachdem Steven Wilson von seiner Faszination für Zeit geschwärmt hat, habe ich da auch noch mal reingehört, nach mehr als 50 Jahren. Er hat nicht unrecht.
Toll, sehr interessante Zusammenstellung. Man ist ja immer froh um Tipps jenseits der Formatradios.
Nils Petter Molvaer habe ich live in Leverkusen bei den Jazztagen gesehen. Unglaublich, was der für eine Atmosphäre erzeugt. War ein geniales Konzert. Ähnlich für mich spontan noch „Aura“ von Miles Davis.
Danke dass Du Mani Matter erwähnst – gleich hinter meiner Lieblingsband – denn was er geschrieben hat, ist grandioseste Kunst und perfekte Philosophie, aber so, dass jeder der denken kann – und wichtiger: denken will – es auch versteht.
@liquid orange Mani Matter als Philosoph? So habe ich das noch nie betrachtet, aber ja, hat was. Seine Lieder sind zeitlos.
Mein Vater als Jazz und Klassik Konsument, prägte und förderte. Ging mit mit mir als Stepke zu Jazzmatinees, spendierte mir Studenten-Abos zu klassischen Konzertzyklen und selbstverständlich besuchte ich mit ihm eines der regelmäßig stattfindenen Konzerte von Jaques Loussier im Schloß Landestrost in Neustadt am Rübenberge.
Was mich aber wundert, ist die von Dir behauptete 3/4 stündige Klangkollage des Titelstücks auf der B-Seite von Waiting For Cousteau. Ich habe das Vinyl gerade in der Hand, das Stück ist mit 22:03″ angegeben.
Heute muß man nicht speziell ein Fan von Jean Michel Jarre oder Tangerine Dream sein.
Ich verliere mich immer wieder auf Soundcloud, YouTube oder Mixcloud in Playlists und entdecke neue Fusionen in denen ein Nils Fram plötzlich mit Laurant Garnier und Buggi Wesseltoft und oder Hendrik Schwarz zusammenspielen. Dann tauchen neue Aspekte durch Francesco Tristano und Carl Craig auf.
Plötzlich interessiert mich gar nicht mehr die Musik aus meiner Vergangenheit, die zugegebenermaßen prägend für eine gewisse Offenheit für Neues und ungewohntes ist, sondern ich entdecke die Gegenwart die sich leider nur all zu oft in weiter Ferne abspielt, oft in Frankreich oder Skandinavien… was auch als Kritik an deutscher Gegenwartskultur zu verstehen ist… jedenfalls surfe ich und denke mir nur all zu oft: „Wie geil ist das denn!!!“
Mein Tip:“Mal auf YT ‚Avignon Konzerte‘ mit einem der o.g. Herren eingeben.“
@KallePeng Danke, Kalle, für Deinen ausführlichen Kommentar und den Tipp mit den Avignon Konzerten.
Ganz kurz: Jean Michel Jarres En Attendant Cousteau wurde für Vinyl gekürzt. Die CD- respektive Download-Version ist wirklich so lang.