Shred Guitar - ein Jahrzehnt im Metal-Fieber!
Die Achtziger – laut, schrill und im Nachhinein dann und wann etwas peinlich. Aber Spaß hatten die Leute allemal und nach den etwas muffigen Siebzigerjahren explodierte die Musikwelt in einem unglaublichen Farbenspiel der Genres und der Experimentierfreude. Es war das Jahrzehnt der Schulterpolster, des Haarsprays und natürlich der Shred Guitar! Eine ganze Generation an jungen Gitarristen, inspiriert und angetrieben von ihren virtuosen Vorbildern wie Hendrix, Howe und Page, stürmte die Bühnen die Welt, um auf ihnen ungenierter denn je zu zeigen, was man drauf hat. Der Kult um die Gitarre wuchs beständig an und andauernd wurden die Grenzen dessen gesprengt, was man für technisch möglich hielt. Daraus entwickelte sich ein ganz eigener Stil, gespeist aus dem noch jungen Heavy Metal und älteren Vorbildern aus Jazz und Klassik: Shred Guitar!
Shred Guitar – in Virtuosi Veritas!
Seinen Ursprung hatte die Shred Guitar vor allem im Heavy Metal und entlieh sich von diesem auch die wichtigsten Eigenschaften: Power und Geschwindigkeiten. Es sind wohl diese beiden Attribute, die zusammen die besondere Energie der Shred Guitar ausmachten. Und um diese gebührend zu transportieren, war eine gewisse Virtuosität vonnöten, die man an den Musikern bewundern und ihr Nacheifern konnte. Schon in den späten Siebzigern wurde, abgesehen von den Urvätern der Rockgitarre, das schnelle und technisch anspruchsvolle Spielen immer wieder in den Vordergrund geschoben und zu einem wichtigen Bestandteil von Musik. Gitarristen wie Frank Zappa und Eddie Van Halen zeigten gerne ihr Können und schrieben Songs um die Gitarre herum und junge Nachwuchstalente wie Steve Vai faszinierten mit ihren technischen und musikalischen Fähigkeiten.
Ein Sohn eines schwedischen Klempners sollte die Gitarre aber für immer oder wenigstens für das folgende Jahrzehnt, gänzlich verändern. Yngwie Malmsteen schlug mit seinem Debütalbum Steeler von 1983 ein wie eine Bombe, noch nie zuvor hatte ein Metal-Gitarrist mit einer solchen Virtuosität und solch einem Verve gespielt. Er baute Elemente und Techniken aus der barocken Musik, wie Arpeggien und Legati in sein Spiel ein und katapultierte sie so in das 20. Jahrhundert und sich selbst in die Köpfe von Millionen junger Gitarrenfans. Er und seine Gitarre standen im Vordergrund der Musik, seine Kompositionen waren durchgehende Soli und schillernde Hommagen an die E-Gitarre an sich.
Er trat eine Bewegung los, in der die Gitarre immer lauter, immer schneller und immer extremer gespielt wurde und in der das Instrument bis zum Äußersten ausgereizt und „hochgezüchtet“. Anstatt wie im frühen Heavy Metal, altbekannte pentatonische Tonleitern hoch und runter zu nudeln oder schmerzlich süße Melodien in langgezogenen Bendings zu verewigen, galt es tot geglaubte Kirchentonarten aus der Abstellkammer der Harmonielehre auszugraben und sich auf dem ganzen Griffbrett auszutoben. Metalbands mit Guitarheroes in ihren Reihen schossen wie Pilze aus dem Boden. Während sich Thrashmetal-Bands wie Metallica und Slayer auf komplizierte und schelle Riffs fokussierten, trieben Bands wie Racer X mit Paul Gilbert an der Gitarre und Solokünstler wie Steve Vai die Sologitarre und den Einbau neuer Harmonien und Spieltechniken wie Stringskipping, Sweep-Picking und Tapping, voran.
Interessant war dabei, dass diese anspruchsvolle und sehr auf das Soloinstrument konzentrierte Musik auf breite Anerkennung stieß und Eingang in die Popkultur fand. Es festigte sich das Bild des coolen Gitarristen als Badboy und Frauenschwarm. Gleichzeitig entfernte sich die Shred Guitar ein wenig von dem etwas düsteren und morbiden Image des Heavy Metal und wurde schriller und bunter. Gerade Gitarristen wie Paul Gilbert nahmen sich selbst schon nicht mehr ganz so ernst und Großmeister wie Steve Morse entfernten sich schon früh von der ganz harten Schiene und bauten, teils ironisch gebrochen, Elemente aus Country und Blues in ihren persönlichen Stil der Shred Guitar ein. Auf der breiten Front dominierte aber eine sehr männlichkeitsbetonte Interpretation des Gitarrenhelden – mit wallendem Brust- und Haupthaar und einer mysteriösen und oft unnahbaren Aura. Natürlich gehörte auch die Windmaschine und die Verstärkerburg hinter dem Gitarristen zur Grundausstattung!
Die Suche nach noch mehr Geschwindigkeit und Können an der Gitarre gipfelte dann für viele am Ende der Achtzigerjahre in dem Speedmetal-Duo Cacophony, bestehend aus den beiden Wunderkindern Jason Becker und Marty Friedman. Beide Beherrschten ihr Instrument so perfekt und anscheinend mühelos, beide barsten förmlich vor Musikalität und Können, dass dies vielleicht der vorläufige Höhepunkt der Shred Guitar sein musste. Viel mehr ging eigentlich nicht mehr. Aber was für ein Finale!
Es war nicht das Ende der Shred Guitar, aber vielleicht deren Präsenz in der Popmusik. Mit dem Grunge entstand Anfang der Neunziger ein neues Ideal der Rockmusik, wesentlich impressionistischer und gefühlsbetonter als die Explosion der Achtziger. Doch die Shred Guitar sollte überleben. Auch wenn in der Popmusik nun weniger von ihr zu hören war und die Künstler von einst nicht mehr ganz vorne mitspielten, sicherten sich die Schredder ihre Nische insbesondere im Speed- und insbesondere Progressive Metal, der Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger mit Bands wie Queensrÿche, Dream Theater, Megadeth oder Psychotic Waltz an Fahrt gewann und sogar einige kommerzielle Erfolge feiern konnte.
Aber auch viele Künstler, die schon in den Achtzigern einige Erfolge feierten, konnten diese in den späten 90ern und Anfang der 2000er weiterführen. Steve Vai und Eric Johnson bauten ihre Solokarrieren weiter aus, erster gründete später mit einem anderen bekannten Gitarristen, Joe Satriani die Gitarren-Konzertreihe G3. Steve Morse erweiterte sein Spektrum weiter und entwickelte sich zum musikalischen Chamäleon und klassische Shredder wie Michael Angelo Batio, brachen weiterhin mit jedem neuen Album alle Geschwindigkeitsrekorde und verkauften ihre Geschwindigkeit weiter als Markenkern ihrer Musik.
Auch in den letzten zwei Jahrzehnten erfreuten sich einige als Shredder zu bezeichnende Gitarristen großer Beliebtheit und nutzten dabei vor allem Videoportale, um auf sich aufmerksam zu machen und per viralem Marketing ihr Publikum zu erreichen. Gitarristen wie Andy James und Guthrie Govan wurden vor allem durch ihre Lehrvideos bekannt und zählen heute wohl zu den bekanntesten und besten „Nachwuchstalenten“ und Gitarristen wie Richie Kotzen vermengen heute klassische Shred-Techniken mit Blues und Poprock und sind dabei ebenfalls sehr erfolgreich.
Schöner Artikel, Tilmann. Aber eines muss ich als alter Sack dazu doch noch sagen. Es gab mMn. kein Jahrzehnt, in dem die Gitarrenartisten auf der Hipness Skala weiter hinten lagen als die Achtziger. Ich vermute, die Egerländer waren cooler. Ein Jahrzehnt zwischen Punk/NewWave und dem aufkommenden House/Techno. Jetzt, rückblickend, kann ich das auch in einem anderen Licht sehen. Aber die Yngwees und Steves wirkten damals wie aus der Zeit gefallen. Ich schob meine Gitarre weg und holte die Synthies raus, nicht dass man mich noch zu den BOFs (Boring old farts), so nannten Punks/Waver solche Musiker, gerechnet werden könnte. Da wäre meine Reputation am Arsch gewesen. ;) Heute, wie gesagt, mit Altersmilde, sehe ich das etwas differenzierter. Nur eine Frage bleibt: Die Jungs machen mehr Anschläge pro Sekunde als ein Kolibri, aber gibt es wenigstens einen Song von einem von denen, der über die Hardcorefans hinaus bekannt wurde?