Hinterm Horizont geht's weiter
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Dass Neural DSP immer wieder für eine Überraschung gut ist, das hat sich mittlerweile herumgesprochen. Neben dem Quad Cortex, das dem Flaggschiff der digitalen Gitarrenwelt, dem Kemper, langsam aber sicher den Rang abläuft, sorgen die Finnen gerade im Bereich der rechnerbasierten Plug-in- und Standalone-Lösungen immer wieder für Aufsehen. Neben genialen Marketingstrategien, denen Profis wie John Petrucci, Tosin Abasi, Cory Wong, Tim Henson und viele mehr zur Seite stehen, und deren Signature-Software jede für sich in der absoluten Oberliga spielt, hat Neural DSP auch die Lizenz, legendäre Verstärker nachzuahmen. So haben das Soldano SLO-100 Plug-in sowie der digitale Klon des Tone King Imperial Mk II bei uns im Test bislang keine Schwächen offenbart, ganz im Gegenteil, das Spielgefühl und der Sound der genannten Software-Amps sind von realen Amps im Studio quasi nicht mehr zu unterscheiden. Nun kommt ein neuer Coup. Der Ausnahmegitarrist Rabea Massaad, der vielen durch seine kultigen YouTube Videos und seine Zusammenarbeit mit Andertons Music bekannt sein dürfte, präsentiert seine eigene Software: Neural DSP Archetype Rabea. Und wer schon immer mal coole Synth-Sounds aus seiner Gitarre zaubern wollte, sollte jetzt unbedingt weiterlesen.
Neural DSP Archetype Rabea – ein erster Überblick
Installation und Registrierung der Neural DSP Archetype Rabea Software erfolgen über Download von der Website des Herstellers bzw. über einen iLok-Account. Beides erfolgt zuverlässig und ohne böse Überraschung. Die Software kann nach der Installation sowohl als Plug-in innerhalb der präferierten DAW, als auch standalone verwendet werden. Einzige Voraussetzung ist ein Rechner, eine gute Soundkarte und ein paar gute Studiomonitore. Beim ersten Öffnen der Software zeigt uns Neural DSP mal wieder, wo der Hammer hängt. Mit viel Liebe zum Detail grafisch umgesetzt, erwartet uns der erste von drei Amps. Optisch irgendwo zwischen Time Machine und GoT angesiedelt, nutzen wir dieses erste Fenster zu einer ersten Übersicht über die Software.
Wer schon mal eine Software von Neural DSP geladen und benutzt hat, kann dieses Kapitel jetzt direkt überspringen, denn der Aufbau ist eigentlich immer gleich. In der Mitte dominiert der jeweils in der oberen Leiste ausgewählte Slot, das Signal durchläuft grundsätzlich die Slots von links nach rechts. Im Fall der Neural DSP Archetype Rabea Software sind dies die folgenden:
- Overlord Synth
- Pre Effects
- Amp Section
- Speaker/IR Section
- Equalizer
- Post Effects
Auf alle Sektionen gehe ich gleich einzeln ein. Ausgegraute Sektionen sind inaktiv, ein Verändern der Reihenfolge der einzelnen Sektionen ist nicht möglich. In der Amp-Sektion kann zwischen den drei zur Verfügung stehenden Amps ausgewählt, die Auswahl-Buttons befinden sich in der unteren Leiste des Fensters. Jedem Amp ist dabei ein Cabinet zugeordnet, wer möchte, kann aber auch durch Anklicken des Chain-Symbols die feste Zuordnung aufheben und wild kombinieren.
In der Leiste direkt über dem Amp sind die Regelmöglichkeiten für Input- und Output-Level untergebracht, dazwischen finden sich einige sinnvolle Features. Zunächst finden wir hier ein Noise-Gate, um den Sound für die weitere Bearbeitung frei von Nebengeräuschen zu bekommen. Eine Transpose-Funktion ist in der Lage, die Gitarre virtuell höher oder tiefer zu stimmen, quasi ein digitaler Kapodaster. Die Software kann innerhalb der DAW Mono oder Stereo betrieben werden, wobei die Ausgabe bei Bedarf natürlich immer in Stereo erfolgt, es geht hier um den Input, der ja möglicherweise bereits vor dem Plugin in ein Stereosignal aufgeteilt wurde. Eine Spread-Funktion sorgt für einen Doubler-Effekt, der das synchrone Einspielen durch zwei Gitarren simulieren soll. Das letzte Steuerelement ist der Preset-Browser, hier können die Werkssounds abgerufen werden oder eigene Kreationen gespeichert und wieder aufgerufen werden.
Ganz unten rechts kann die Größe des Fensters in vier Stufen eingestellt werden, unten links befindet sich der Zugang zum Stimmgerät und zu den MIDI-Mappings, falls der Rechner mit einem entsprechenden Controller verbunden ist oder innerhalb der DAW MIDI-Befehle gesendet werden. In der Standalone-Version hat man noch zusätzlich Zugriff auf die Signal-Routings und auf ein luxuriöses Metronom.
Neural DSP Archetype Rabea – die Sektionen im Einzelnen
Sehen wir uns die insgesamt 6 Sektionen von links nach rechts an. In der Signalkette als erstes befindet sich direkt der eigentliche Knaller der Neural DSP Archetype Rabea Software, der Overlord Synth
Der Overlord Synth
Mal Hand aufs Herz, wer wollte nicht schon immer mal seinem Leadsound einen schneidenden, sägenden Synth hinzufügen? Oder mit der Gitarre synthesizerartige Flächen erzeugen? Bislang führte dieser Weg immer über einen MIDI-Pickup oder über einen Keyboarder. Erstere sind teuer, Letztere sind unbezahlbar und leider manchmal zur Probe nicht da. Hier kann der Overlord Synth helfen. Es handelt sich hierbei um einen monophonen Synthesizer, dessen Klangerzeugung vom Signal der Gitarre getriggert wird. Monophon bedeutet, dass immer nur ein einzelner Ton wiedergegeben werden kann, Akkorde werden nicht erkannt. Das ist einerseits schade, andererseits auch technisch nicht zufriedenstellend zu lösen. Um einen polyphonen Synth mit der Gitarre zu steuern, müsste man also tatsächlich auf einen MIDI-Pickup zurückgreifen. Darum geht es bei dieser Software aber gar nicht. Ziel ist es, Leadsounds, Synth-Bässe oder Arpeggios zu erzeugen. Hierzu stehen vier Module zur Verfügung. Die Amplifier-Sektion steuert Attack und Sustain des Synths, im Arpeggiator können wildeste Arpeggios kreiert werden. Nach Festlegen der Root-Note und des Tongeschlechts kann man die „Richtung“ des Arpeggios bestimmen, also auf, ab, auf & ab, ab & auf oder zuf#ällig. Maximal zwei Oktaven rauf oder runter kann es gehen, die gewünschten Intervalle können ebenfalls festgelegt werden. Der Sync-Modus synchronisiert bei Bedarf das Tempo des Arpeggios mit dem Tempo des Songs. Weiterhin stehen zwei Oszillatoren mit je vier Schwingungsformen und ein Filter zur Verfügung. Obwohl der Overlord Synth am Anfang der Signalkette steht, kann er auch hinter die folgenden Module geschaltet werden, was zusätzliche Möglichkeiten der Klangformung eröffnet. Der möglicherweise wichtigste Knopf dient dem Mixverhältnis zwischen Original- und Synth-Signal, denn hier kann der Synth entweder dem Gitarrensignal zugemischt oder ausschließlich hörbar gemacht werden.
Um die Möglichkeiten des Overlord Synths zu demonstrieren, hier schon mal ein paar Klangbeispiele. Es handelt sich ausschließlich um Werkssounds. Das Tracking des Synths, also die Zeit, die vergeht, bis die Software den Ton analysiert und umgesetzt hat, ist unglaublich gut, man muss aber sehr auf sauberes Spiel achten, sonst gleitet einem der Ton weg. Mit ein bisschen Übung kann man aber sogar Vibratos und Bendings einarbeiten, der Synth folgt zuverlässig. Der Synth ist definitiv eine Bereicherung für moderne Gitarristen, die die ausgetretenen Klangpfade verlassen wollen.
Neural DSP Archetype Rabea – die Pre-Effects
Vier Effektpedale stellt das Neural DSP Archetype Rabea Plug-in vor der Amp-Sektion zur Verfügung. Ein Dual Compressor, ein Octaver, ein Fuzz und ein Overdrive. Der Dual Compressor bietet zwei sich ergänzende Kompressionsstufen und ist in der Lage, vom angedickten Singlecoil-Sound bis zum völlig überdrehten squashy Sound alles abzudecken, wozu man normalerweise einen Kompressor einsetzt. Der Octaver kann jeweils eine Oktave nach oben oder unten hinzufügen und stellt zusätzlich zwei Soundmodi zur Verfügung: vintage und modern. Fuzz und Overdrive muss ich nicht erklären, das sind die Kumpels aus der Krachmacherstraße. Beide bieten ebenfalls je zwei Soundmodi an.
Neural DSP Archetype Rabea – die Amps
Drei verschiedene Amps bietet das Rabea Plug-in. Einen Clean-Amp für einen „kalifornischen“ Sound, sehr puristisch, glockig und sauber. Kandidat No. 2 ist für die Rhythmussounds zuständig, er kann alles von nicht mehr ganz so clean bis hin zum heißen Highgain-Rhythm-Sound. Amp No. 3 schließlich bietet das Highgain-Solo-Brett mit Gain-Reserven im Überfluss. Um die Charakteristik der drei Amps zu demonstrieren, habe ich alle drei Amps in Mittelstellung aller Regler angespielt, lediglich der Input-Gain des Clean-Amps wurde etwas zurückgedreht. Etwas Reverb kommt aus dem Plug-in selbst.
Die Transpose- und Doubler Funktion
Manche Gitarristen spielen ihre Parts mehrfach ein, um einen fetten Sound zu erzeugen. Das ist sicherlich auch immer noch der Königsweg, denn gerade das menschlich Unperfekte zweier eigentlich identischer Spuren macht den organischen Sound aus. Trotzdem sind Doubler-Effekte aus der modernen Produktion nicht mehr wegzudenken. Die Transpose-Funktion macht es uns einfach, einen Song tiefer oder höher zu spielen, ohne die Gitarre umstimmen oder eine Kapodaster nutzen zu müssen. In den folgenden beiden Beispielen hört ihr zunächst die Funktion des Doublers, im zweiten Beispiel folgt die Transpose-Funktion mit einem Downtuning von vier Halbtönen.
Neural DSP Archetype Rabea – die Cabsim-Sektion
Das Herz eines jeden digitalen Gitarrenverstärkers ist die Simulation der Boxen. Hier gibt es grundsätzlich gegenüber den anderen Softwares aus der Archetype-Reihe nichts Neues zu vermelden. Warum auch, wenn dort bislang alles ohne jede Kritik funktioniert hat. Nur kurz ein paar Eckdaten: Sechs Mikrofontypen stehen zur Auswahl, von denen maximal zwei gleichzeitig genutzt werden können. Die Mikrofone sind frei im Raum und im Stereobild platzierbar. Auch eigene IRs können in dieser Sektion geladen werden
Neural DSP Archetype Rabea – EQ und Post-Effekte
Hinter jedem Amp hängt ein 4-Band semi-parametrischer EQ, der den Sound des Amps bis aufs Härteste verbiegen kann. Ich habe im Verlauf des Tests keinen mir vorschwebenden Sound NICHT hinbekommen, alles dank Amps und EQs. Beide Komponenten im Einklang arbeiten fantastisch zusammen. Was aber jetzt noch nach dem EQ kommt, ist sozusagen das Sahnehäubchen auf einem gediegenen Gitarrensound. Die rede ist natürlich von den beiden Klassikern Delay und Reverb. Schauen wir uns zunächst das Delay an.
Das Delay kann freundlicherweise mittels des Pre/Post-Schalters auch vor den Amp geschaltet werden. Das ist richtig klasse, denn manch authentischer Vintage-Sound braucht das Delay vor der Verstärkung. Grundsätzlich kann das Delay mit dem Namen „Atlas“ im Single- oder Dual-Modus betrieben werden. Im Dual-Mode werden die beiden Regler „Cross Feed“ und „Time R“ aktiv. Die Delay-Zeit kann entweder eingetappt oder mit der Produktion synchronisiert werden, der „Time Type“-Schalter wechslet zwischen Millisekunden und Notenwerten. Sehr praktisch, wenn man zu einem Song mit 146 bpm ein achteltriolisches Delay braucht. Da kann der Taschenrechner in der Tasche bleiben. Der „Icicles“-Regler fügt dem Delay bei Bedarf spacige Modulationen hinzu. Springen wir rüber zum Reverb.
Das Reverb-Pedal bietet als Überraschung eine Freeze-Funktion, die bei Tastendruck den aktuellen Ton/Akkord hält. Dieser gehaltene Ton kann in Lautstärke und Tonhöhe angepasst werden. Ein wundervolles Tool, um mit sich selbst zu jammen. Der Hall selbst klingt modern und dröhnt den Sound nicht zu, so soll es sein. Zum Abschluss gibt’s noch ein paar Klangbeispiele auf die Ohren, die die Leistungsfähigkeit des Neural DSP Archetype Rabea Plug-ins demonstrieren sollen.
Gitarre es überhaupt Gitarristen die live diese Software nutzen (wollen)? Wie sieht so ein Setup aus, dass live mit dieser (oder vergleichbarer Software) fuzzt, drived oder rockt?
Wer hat (greifbare) Beispiele? Danke im Voraus für die Rückmeldungen! :-)
@CDRowell Ich habe das tatsächlich schon ausprobiert, seinerzeit mit Guitar Rig 5, einem MacBook und der zugehörigen Fußleiste. Das hat sich für mich nicht bewährt. Anderseits sind Kemper und Co auch nur Computer, allerdings bühnentaugliche. Ich kann mir aber gut vorstellen, in einer aufwändigeren Produktion, die z.B. mit Ableton synchronisiert wird, ein PlugIn zu integrieren. Dann wären sogar die Soundwechsel programmierbar und du hast die Füße frei für die Performance 😁
@CDRowell Also: Ich bin absolut fasziniert vom Klang der Software (habe die cory wong archetype. die finde ich sogar noch besser, als die Rabea (je nachdem, was für einen sound man sucht)… Kann man nicht mit so Zoom oder Guitar Rig-Kram vergleichen…
Live: Ich nutze sie nur im Studio, aber mit einer guten Soundkarte und geringen Latenzen (RME, Arturia, ect) funktioniert sie brilliant schnell und ohne spürbare Verzögerung (egal ob standalone oder in einem abletonsetup). Ist dann praktisch Laptop, Soundkarte und Plugin offen, angeschlossen an die PA wie ein „CD-Player“ :-)… Fußpedal kann man sich anschließen und komplett fernsteuern (habe den blackstar controller) …. ob man sich damit sicher fühlt, wenn man hardware gewohnt ist, muss jeder selber wissen. bei mir ist sie bisher nicht ein einziges mal abgestürzt :-)
@CDRowell Ich habe in diesem Jahr eine Musical-Produktion mit einem PC-Setup gemacht. Als Software kam AmpliTube 5 zum Einsatz. Und ein Axe-IO USB-Interface für den Gitarren-Input und FOH-Output. Zum Umschalten der Sounds und zum Umblättern der Noten wurde ein Xsonic Airstep genutzt. Das Monitoring ging über normale Kopfhörer und einen Mini-Mixer, bei dem ich dem Monitormix mein Gitarrensignal nach Gusto hinzumischen konnte.
Es gab keine Abstürze, Hänger oder ähnliches. Auch die Latenz konnte so niedrig gewählt werden, dass ich keine Einschränkungen bemerkt habe.
Der andere Gitarrist setzte ein AxeFX ein.
Ich nutze auch andere Plugins von Neural DSP, doch das Archetype „Bea“ ist bis heute mein liebstes.
Rabea Massaad ist für mich eine große Inspirationsquelle, sein Stil und seine musikalischen Herangehensweisen haben unter anderem auch meinen Stil geprägt und all das kann man in seinem Plugin wiedererkennen. Es macht einfach wahnsinnig viel Spaß damit zu experimentieren und neue Sounds zu kreieren.