VCA-Klassiker im modernen Desktop-Format
Es ist immer wieder spannend zu sehen, wie die großen Player unserer Branche ihr historisches Erbe in neuen Produkten aufleben lassen. So auch die britische Firma Neve, die uns mit dem Neve 88C einen Stereo-Hardware-Kompressor präsentiert. Der Urahn dieses Kompressors in VCA-Technik erblickte in den 70er-Jahren das Licht der Welt. Neve war damals auf der Suche nach einer flexibleren Variante für die bis dahin verwendeten Bridge-Diode-Kompressoren. Das Modell, das wir uns heute anschauen, basiert auf dem Kanal-Kompressor der Neve 88R-Konsole und kommt in einem praktischen Desktop-Gehäuse. Schauen wir uns mal an, was dieser kleine Kompressor so alles kann.
Inhaltsverzeichnis
Übersicht: Was bietet der Neve 88C Kompressor?
Das Auffälligste am Neve 88C ist sicherlich seine Form. Statt einer Rack-Version ist er als Desktop-Gerät ausgeführt. Mit einer Grundfläche ungefähr so groß wie ein DIN-A5-Heft findet er auch auf dem kleinsten Studiotisch Platz. Optisch wirkt er vielleicht etwas schlicht, wenn man die legendäre Historie der Firma bedenkt. Aber wir wollen uns ja auf die inneren Werte konzentrieren.
Der Neve 88C ist ein zweikanaliger Kompressor in VCA-Technologie, der Dual-Mono oder Stereo genutzt werden kann. Die Bedienelemente sind vertraut: Drehregler für Threshold, Make-up-Gain, Ratio und Release für jeden Kanal, dazu kommen True-Bypass-Schalter und ein Link-Button, um beide Kanäle gemeinsam für Stereo-Anwendungen zu nutzen. Unterschiedliche LED-Meter zeigen Input, Gain-Reduction und Output für jeden Kanal an.
Was zunächst rudimentär klingt, wird durch die Push-Button-Funktion der vier Drehregler relativiert. Der 88C hat einige Tricks auf Lager, die ihn flexibler machen, als es zunächst den Anschein hat. Schauen wir uns die Frontseite doch noch etwas genauer an. Da wäre zunächst der Threshold-Regler, der von +18 bis -30 dB arbeitet. Drückt man diesen Knopf, aktiviert man den externen Sidechain-Eingang auf der Rückseite. Erkennbar an der blauen LED mit der Beschriftung „Key“ direkt darunter, die nun leuchtet. Direkt daneben liegt der Make-up-Gain-Regler, der hilft, die Pegelreduktion durch die Komprimierung auszugleichen. Bis zu 30 dB lassen sich hier aufholen.
Auch dieser Drehregler hat eine versteckte Funktion. Wird er gedrückt, wird ein Hochpass-Filter aktiviert, das tiefe Frequenzen von der Kompression ausnimmt. Beim ersten Drücken wird dieses Sidechain-Filter auf 80, beim zweiten Drücken auf 125 und beim dritten auf 300 Hz gesetzt. Die dazugehörige LED leuchtet entsprechend blau, orange oder rot. Das ist super hilfreich, wenn verhindert werden soll, dass die gesamte Musik beim Einsatz, der Kick-Drum komprimiert wird und anfängt zu pumpen.
Als nächstes haben wir einen Ratio-Regler, der die Stärke der Komprimierung festlegt. Mögliche Werte sind hier 1:1 (keine Komprimierung) bis hin 1: ∞. Damit kann der Neve 88C auch als waschechter Limiter arbeiten und etwa beim Mastering genutzt werden.
Wer in der bisherigen Beschreibung einen Attack-Regler vermisst hat, hat gut aufgepasst. Der Neve 88C arbeitet mit einer sogenannten Adaptive Attack Technology, die sich automatisch dem Musikmaterial anpasst und die für das jeweilige Material perfekt passende Attack-Time einstellen vermag. Soweit zumindest das Werbeversprechen. Wie gut das funktioniert, werden wir später im Praxisteil herausfinden. Neve spricht davon, dass die Attack-Regelung des 88C Werte zwischen 1,5 und 5 ms bereitstellen kann. Dabei werden kurze, perkussive Klänge mit kürzeren und länger ausklingende Signale mit längeren Attack-Zeiten versehen. Das Ganze passiert automatisch ohne Zutun des Benutzers. Die einzige Möglichkeit, auf die Attack-Zeit Einfluss zu nehmen, ist der sogenannte Fast Attack Modus. Dieser wird aktiviert, indem man den Ratio-Drehregler drückt. Ihr habt es erraten, auch hier wird der entsprechende Zustand durch eine blau leuchtende LED direkt unter dem Regler dargestellt. Ist der Fast Attack Modus aktiviert, liegt die schnellste Attack Time des 88C gar bei 0,1 Millisekunden.
Zu guter Letzt haben wir noch den Release-Regler, der das Ausklingverhalten des Neve 88C regelt. Er stellt Werte von 0,03 Sekunden bis 3 Sekunden zur Verfügung. Alternativ gibt es einen Auto-Release-Modus, der ähnlich wie die Attack-Schaltung die Release-Zeiten selbstständig wählt. Auch hier immer in Abhängigkeit vom gerade anliegenden Material. Wer mag, kann sich also nur auf Threshold, Make-up-Gain und Ratio beschränken und alles andere vom 88C selbst regeln lassen. Das funktioniert, wie wir später noch sehen werden, in vielen Fällen erstaunlich gut und ist in stressigen Studiosituationen oder auch im Live-Betrieb ein nicht zu unterschätzendes Feature.
Mittig zwischen den beiden Sets an Reglern sitzt noch ein Link-Button, der es ermöglicht, den Neve 88C als Stereogerät zu benutzen. Ist er aktiviert, so wird stets das lautere von beiden Signalen für die Komprimierung herangezogen. Das soll garantieren, dass beide Kanäle immer die gleiche Gain-Reduction haben. Alle anderen Regler muss man aber von Hand immer nachjustieren. Hier hätte ich es einfacher gefunden, wenn ein Kanal Master für beide gewesen wäre.
Als letztes Bedienelement gibt es noch zwei Bypass-Buttons, getrennt für jeden Kanal. Sind diese aktiviert, ändert sich die Farbe der Output-LEDs von farbig auf weiß. Dadurch ist immer optisch ersichtlich, dass das Gerät auf Bypass steht. Das finde ich super umgesetzt. Übrigens ist das Gerät komplett True-Bypass aufgebaut. Das heißt, bei Deaktivierung durchläuft das Signal keinerlei Komponenten der Schaltung.
Welche Anschlüsse bietet der Neve 88C?
Schauen wir uns doch schnell die Rückseite des Neve 880C an, bevor es endlich zum Praxisteil geht. Wir finden hier lediglich symmetrische Klinkenbuchsen für rechten und linken Ein- und Ausgang und zusätzlich noch zwei Eingänge für das externe Sidechain-Signal.
Das Einzige, was hier auffällt, ist das Netzteil: Der Neve 88C wird nämlich über ein USB-Kabel mit Strom versorgt. Dieses USB-Kabel kann an jedem Port des Computers angeschlossen und mit Strom versorgt oder wahlweise natürlich über einen entsprechenden Adapter an eine Steckdose angeschlossen werden. Ein USB-C-Kabel ist im Lieferumfang enthalten.
Praxis: Der Neve 88C im Tonstudio-Einsatz
Als Erstes fällt mir auf, dass ich die Gehäuseform nicht so wirklich mag. Direkt auf dem Schreibtisch stehend, ist der Neve 88C schwer abzulesen. Ich hatte ständig das Bedürfnis, ihn irgendwie zu erhöhen, damit ich einen besseren Blickwinkel darauf habe. Deswegen sind beispielsweise meine Racks im Tonstudio auch angeschrägt, damit ich die Einstellungen der jeweiligen Geräte besser ablesen kann. Aber das nur am Rande, schauen wir uns wie angekündigt die inneren Werte an, beziehungsweise lauschen diesen.
Generell klingt der Neve 88C, wie man es von einem VCA-Kompressor erwarten würde: druckvoll, knackig und mit eher subtilem Charakter. Letzteres meine ich aber unbedingt positiv. Wer ein Gerät sucht, das den Klang stark verändert, wird sich wahrscheinlich auch nicht nach einem VCA-Kompressor umschauen. Was der Neve 88C richtig gut kann, ist das Verdichten und Zusammendrücken ganzer Mischungen. Stichwort „Glue“. Hier kommt auch die Schaltung mit den verschiedenen Hochpass-Filtern positiv zum Tragen. Man kann so einfach die Kickdrum und den Bassbereich aus der Kompression herausnehmen und unangenehmes Pumpen verhindern. Oder aber, wenn das zur eigenen Stilistik passt, kann man natürlich über die rückwärtigen Sidechain-Eingänge genau das auch provozieren und, wie es in vielen EDM-Mixen ja durchaus üblich ist, den ganzen Mix heftig zum Pumpen bringen. Das Gerät hat einen hohen Headroom und alles, was man durchjagt, klingt irgendwie eine Spur besser danach. Etwas kraftvoller, etwas offener und einfach fertiger.
Für den Praxisteil habe ich den Neve 88C mit meinem MOTU 828es Audiointerface verkabelt und mittels des I/O-Plug-ins in Logic Pro verschiedene Signale damit gefüttert. Ihr hört im Folgenden immer eine unbearbeitete und dann eine mit dem Kompressor bearbeitete Version.
Das Schlagzeug hört ihr sogar in drei Varianten. Zunächst ganz unbearbeitet, dann mit dem Neve 88C auf der Summe und dann noch einmal mit genau den gleichen Einstellungen. Einziger Unterschied, das Hochpass-Filter wurde auf 80 Hz gesetzt. Hört einmal, wie kraftvoll und rund plötzlich die Bassdrum durchkommt.
Auch bei der Bearbeitung von Bassdrum und Snare kann man gut hören, was der Neve 88C mit dem Material anstellt. Beide Spuren profitieren deutlich von der Bearbeitung mit dem Kompressor und klingen jetzt viel knalliger und runder.
Bei dem Klangbeispiel für den E-Bass habe ich mit der Fast Attack Regelung gearbeitet, um einzelne Spitzen des Signals abzufangen und den Bass noch kompakter und dichter zu machen. Er drückt nun ein ganzes Stück mehr und setzt sich im Mix viel besser durch.
Das Piano klingt nach der Bearbeitung viel kompakter und gewinnt einiges an Durchsetzungskraft. Dabei geht der natürliche akustische Charakter des Instruments zu keiner Zeit verloren.
Als Letztes hören wir noch eine akustische Gitarre. Hier habe ich zu einem kleinen Trick gegriffen und die beiden Kanäle des Neve 88C separat benutzt, um die Gitarre im M/S-Modus zu bearbeiten. Der linke Kanal bearbeitet das Mittensignal nur ganz dezent, während der rechte Kanal das Seitensignal relativ kräftig bearbeitet. Hört mal, wie viel größer und strahlender die Akustikgitarre plötzlich klingt.
Der Bericht hat mir gut gefallen. Das Format des Neve ist schwierig, da wäre die Qube Version von Eylsia ein deutlich partktiescheres Desktop-Design, wobei für mich Rackversionen oder 500er die besseren Formfaktoren sind.
Den Preis empfinde ich auch als eher zu hoch. Dafür würde ich wohl einen anderen Kompressor holen….
@DasIch&DerEr genau das war auch mein gedanke… hab sogar mal bei neve nachgefragt, ob evtl. auch was im 500er format geplant ist, aber keine antwort…
bzgl. der soundbeispiele hier finde ich es schade, dass nur akustisches zu hören ist, aber nun gut.
@dflt Ja, das ist irgendwas dazwischen, weder Rack noch 500er-Format, das werden sich sicherlich einige schon deswegen überlegen, ob das Sinn macht.
@dflt Das mit den elektronischen Klangbeispielen versuche ich beim nächsten Mal zu berücksichtigen. Komme halt eher aus der akustischen und handgemachten Musik. 😁
Hallo zusammen.
Sidechain (Hochpass-Filter), Adaptive Attack Technology und Fast Attack machen den Kompressor schon recht flexibel.
Auch erfreulich, dass der Bypass-Schalter, den Kompressor komplett aus dem Signalweg nimmt.
Jetzt fehlt eigentlich nur noch der passende EQ aus der 88RS Serie und der Channelstrip wäre komplett. Gut gemacht NEVE.
Gruß
SlapBummPop
@SlapBummPop So ein EQ, wäre tatsächlich noch eine tolle Ergänzung. Mal schauen, was NEVE da noch plant.
Dem Testergebnis kann ich mich uneingeschränkt anschliessen, nutze den Kompressor zusammen mit dem NEVE 88m „…Das Gerät hat einen hohen Headroom und alles, was man durchjagt, klingt irgendwie eine Spur besser danach. …“, ich bilde mir das beim Hören auch ein, etwas Magic darf bei dem Preis aber auch dabei sein 😉. Vor dem Erscheinen des 88c nutzte ich ausschließlich Software-Kompressoren, auch hochwertige UA-Emulationen. Keine davon hat so viel Spass gemacht, wie der 88c mit seinen schönen Drehknöpfchen. Jetzt erwarte ich den 88e und beende den Turmbau dann damit. In Summe sind das dann ~3600€ für zwei hochwertige Kanalzüge mit Wandler. Was will ich mich da beklagen?
@Frunsik Absolut! Sonst wäre unsere Arbeit ja auch ein Stück weit langweilig ohne Magie. Kann genau nachvollziehen, was du meinst mit dem Vergleich zu Software Kompressoren. Mir geht’s dann nur zweitrangig um den Klang. Es ist einfach die Haptik und der Spaß beim Arbeiten mit Hardware.
Guter Test samt Beispielsounds, danke Moritz Maier.
Das Gerät hat einen guten Sound, ist einfach zu bedienen und flexibel.
Für den Preis wäre ein etwas edleres Gehäuse wünschenswert.
Gruß masterBlasterFX
@masterBlasterFX Da bin ich relativ entspannt mittlerweile, das Gehäuse ist zwar nicht schön anzusehen, wirkt aber stabil. Das ist mit deinem Zweifelsfall wichtiger als ein toller Look.