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Test: Soniccouture Canterbury Suitcase, Plugin

Canterbury Studio Rhodes als VST

6. September 2017

Das Suitcase 1 (Jahrgang 1976) im Canterbury Studio, Toronto.

Das Rhodes E-Piano ist nebst der Hammond Orgel das wahrscheinlich wichtigste Keyboard-Instrument der Rock- und Jazzgeschichte und heute nicht mehr aus der Musik wegzudenken. Das Problem ist bloß: Es wird nicht mehr hergestellt. Und so hat man als Keyboarder zwei Möglichkeiten: Entweder man sucht sich ein passendes Instrument auf dem Gebrauchtmarkt oder man behilft sich mit einer digitalen Variante. Glücklicherweise gibt es einige exzellente Librarys, die den unverwechselbaren Sound des Rhodes in all seinen Nuancen und Facetten abbilden. Aus good old England erreicht uns mit Canterbury eine neue Software, die den Platzhirschen Scarbee und Keyscape die Stirn bieten möchte.

Vor ein paar Jahren verbrachten die Leute von Soniccouture einige Zeit in einem Tonstudio namens Canterbury in Toronto, um ein Marimba zu sampeln. Dabei präsentierte ihnen der Besitzer des Studios auch seine Sammlung an Vintage-Instrumenten, unter anderem ein Rhodes Suitcase 1 mit 88 Tasten. Es war sofort klar, dass dies eines besten E-Pianos war, das sie je gehört und gespielt hatten. 2016 reisten sie abermals nach Toronto, um genau dieses Rhodes zu sampeln und daraus eine der komplexesten Rhodes Librarys zu machen, die heute erhältlich sind.
Interessant ist, dass stets drei Signale aufgezeichnet wurden: Line Out, Amp und Raummikros.  Und wie sich dies für ein Instrument der 70er Jahre gehört, wurde der Verstärker mit Mikrofonen abgenommen, die damals schon verfügbar waren: SM57 und AKG C414EB, während der Raumklang mit Kapseln von Soundfield MKV abgebildet wird. Als Vorverstärker kam eine Vintage Neve Konsole zum Einsatz. Pro Taste wurden zwischen 21 und 25 Velocity-Layers aufgezeichnet, das gesamte Datenvolumen beläuft sich auf 16 GB, die für den Kontaktplayer auf 9 GB verlustfrei komprimiert werden. Der Kontaktplayer muss übrigens in der allerneuesten Version (5.6.8) auf dem Rechner installiert sein. Für die Freischaltung startet man den Kontaktplayer im Standalone-Modus und folgt den Anweisungen. Nach ein paar Klicks ist alles erledigt und das Programm betriebsbereit.

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Steckbrief

  • Sample Library eines Rhodes Suitcase 1 mit 88 Tasten, Jahrgang 1976
  • 3 Kanäle: Line, Amp (SM57 und AKG 414 mit Messingkapseln), Raum (Soundfield MKV)
  • Effekte:
    – frei konfigurierbare Filter pro Kanal, über Velocity steuerbar
    – Betonung/Abschwächung der ersten drei Obertöne (“1st, 2nd, 3rd”)
    – Zahlreiche Effekte und Hall-Algorithmen für die Summe
    – 6 Effektslots plus Hall
  • 21 bis 25 Velocity Layers pro Taste
  • 16 GB (8 GB mit Kontakt NCW Komprimierung)
  • 24 Bit, 48 kHz
  • Mac: OX 10.9. oder höher, Intel Core 2 Duo, mind. 4 GB RAM
  • Windows 7 oder höher mit Intel Core Duo oder AMD AthlonTM, mind. 4 GB RAM

Die Mikrophone der Studio Session: SM57 und AKG 414 (Close), Soundfield MKV (Room)

Das Hauptmenü von Canterbury mit einfacher Klangregelung, Tremolo und den drei Kanälen

Der erste Eindruck

Die Bedienung von Canterbury Suitcase erstreckt sich über drei Menüseiten mit jeweils zwei Unterseiten. Das bleibt alles insgesamt sehr übersichtlich und verständlich. Das Hauptmenü nennt sich schlicht Suitcase und bietet Regler für die drei Audiokanäle (“Line, Mic, Room”), die übrigens auch einzeln in der DAW abgegriffen werden können:

Steuerung der Harmonischen sowie der Channel-Filter

Ferner finden sich im Canterbury Suitcase die klassischen Parameter eines Suitcase Pianos: eine zweifache Klangregelung und ein Tremolo mit synchronisierbarem LFO und verschiedenen Schwingungsformen. Ein Klick auf das kleine graue Kästchen oben rechts öffnet eine Unterseite mit Filtern für die drei Kanäle mit Reglern für Cutoff, Resonanz und Steuerung von Cutoff durch den Anschlag. Aus einem Popdown-Menü wählt man einen von zwanzig Filtern aller möglichen Typen und Charakteristiken, der dann in den entsprechenden Signalweg geschaltet wird. Das erinnert an das legendäre Moogerfooger MF-101 Pedal, das von Rhodes Spielern gerne eingesetzt wird. Durch die Filter (vor allem mit der Velocity-Steuerung) lässt sich Canterbury Suitcase dynamischer und akzentuierter spielen. Die Filter sind nicht polyphon, pro Kanal steht genau ein Filter zur Verfügung. Wäre Canterbury ein Synthesizer, würde man von Paraphonie sprechen. Eine weitere interessante Editierfunktion verbirgt sich hinter den lapidaren Bezeichnungen 1st, 2nd und 3rd. Gemeint sind die Harmonischen des Rhodes Klanges, also der Grundton sowie die beiden ersten Obertöne. Diese können einzeln in der Lautstärke geregelt werden, was funktional und klanglich an die Zugriegel einer Hammond erinnert. Ein ebenso simples wie potentes Mittel der Klanggestaltung.
Hier Klangbeispiele mit jeweils nur einer der drei Harmonischen, im letzten Beispiel sind alle drei aktiviert.

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Das Hauptmenü des Canterbury Suitcase bietet also mit den drei Kanälen, den Filtern und der Steuerung der Obertöne schon endlose Kombinationsmöglichkeiten, um sich einen eigenen Rhodes Sound zu basteln. Doch ist dies erst der Anfang. Im Options-Menü finden sich Parameter zur Steuerung der unharmonischen Klanganteile (“Pedal”), Release-Samples sowie der Parameter “Scaling” zur Steuerung der Lautstärke des Diskants. Die Velocity-Kurve lässt sich natürlich auch nach eigenem Gusto einstellen und auf bestimmte Werte eingrenzen. Beispielsweise, um Verzerrungen bei hartem Anschlag zu verhindern – eigentlich ein normales Verhalten eines Rhodes, aber eben nicht immer erwünscht. Die zweite Seite des Options-Menüs bietet Zugriff auf komplexe Tuning-Einstellungen. An Presets finden sich alte Standard-Stimmungen wie Werkmeister, Pythagoreisch oder die Mitteltönige Stimmung und außerdem auch einige moderne Vertreter (Wendy Carlos Super Just C, Powell Locked 14X14). Was sich genau dahinter verbirgt, wird nirgends beschrieben und so bleibt einem nur, sich vom Gehör zu leiten oder die Skalen zu googeln. Zusätzlich kann man eigene Stimmungen programmieren, nach Wunsch auch für jede Taste einzeln, sofern die All Octaves Funktion nicht aktiviert ist.

Die Effektseite mit sechs Effektslots plus Reverb (rechts)

Effekte

Das wahre Highlight von Canterbury Suitcase sind aber die Effekte, von denen maximal sieben gleichzeitig aktiv sein können. In einem Popdown-Menü findet sich die ganze Palette an Effekten, die man sich irgendwie für ein Rhodes vorstellen kann, unter anderem über zwanzig Halltypen. Die Qualität der Effekte ist durchwegs gut und wer sich gerne überraschen lässt, klickt auf das Würfelsymbol und bekommt zufällige Effektkombinationen und -einstellungen zu hören. Erstaunlicherweise klingt fast jede Einstellung dieses Zufallsgenerators zumindest interessant. Unter den Effekten findet sich die ganze Bandbreite an Modulationseffekten (Chorus, Flanger, Phaser), Kompressoren, EQs, Delays und Verzerrern. Und zusätzlich auch Namen, mit denen man auf den ersten Blick nichts anzufangen weiß: Twang, Jump, Convolution? Die Reverb-Algorithmen gliedern sich in natürliche Räume und Hallen, Platten- und Federhall (darunter verschiedene Spring-Reverbs) sowie mit SFX benannte komplexe Klangwelten, die auf illustre Namen hören wie Alien Forest oder Bloor Space. Sehr willkommen ist auch die Möglichkeit, Effekteinstellungen zu speichern. Insgesamt eine exzellente Effektabteilung, die bezüglich Umfang und Flexibilität für eine Rhodes Library einzigartig ist.

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Fazit

Am Canterbury Suitcase stimmt einfach alles: Bedienung, Flexibilität und natürlich der Klang. Das Konzept mit drei Kanälen und der Steuerung der ersten drei Harmonischen ist so simpel wie genial. Dabei fiel es mir ausgesprochen schwer, schlecht klingende Einstellungen zu finden. Alles klingt irgendwie nach Rhodes: vielschichtig, schwebend und bei starkem Anschlag verzerrt. Meiner Meinung nach ist Canterbury Suitcase das beste virtuelle Rhodes, das aktuell erhältlich ist. Keyscape und Scarbee spielen zwar klanglich in derselben Liga, bieten aber weit weniger Parameter. Dabei ist der Preis von knapp 150,- Euro mehr als fair. Ich weiß nicht, was man hätte besser machen können. Absolut verdiente vier Sterne.

Plus

  • Klang
  • 3 Kanäle
  • Tuning-Möglichkeiten
  • Effekte

Preis

  • 149,- Euro
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Klangbeispiele
Forum
  1. Profilbild
    defrigge AHU

    Danke für den schönen Bericht! Als Rhodes-Liebhaber kann man inzwischen aus dem Vollen schöpfen, und das Canterbury-Rhodes, das ich selbst seit einigen Wochen benutze, gehört neben Keyscape (das ein unersetzlich gutes Dyno-Rhodes hat, für das das Canterbury natürlich keinerlei Ersatz bieten kann) und Scarbee (mit dem alten Mk1 und dem neuen 88er Suitcase) sowie dem Frentzen-Rhodes zu den besten.
    Nur der Gesamtbewertung muss ich aus eigener Praxis nachdrücklich widersprechen: die mit Abstand (!) alltagstauglichste Allround-Referenz für (Home-)Studio und Live-Einsatz ist m.E. das neue Scarbee 88er Suitcase, da beisst auch eine Canterbury-Maus keinen Faden ab. Der Grund ist einfach: das Canterbury hat zwei (liebenswerte) Schwächen, die im Mix und im Bandkontext problematisch sind: a) es hat einen Grundsound, der sich im Kontext nicht gut durchsetzt, mit zu viel „Plingglöckchen“-Charakter, Nebengeräuschen und Unebenheiten. Zum anderen kann es nur lieb klingen, bringt (vor allem in den oberen Lagen) keinerlei aggressiven Drive, kann daher nicht(!) gut Funk, Rock und Jazzrock bewältigen – alles Bereiche, die das im Grundsound flexiblere und vielseitiger einsetzbare Scarbee Rhodes elegant und mühelos bewältigt!
    Die Go-To-Rhodes-Referenz ist also für mich nach wie vor ganz klar das Scarbee 88er, dicht gefolgt von einiger der Keyscape-Rhodes-Presets! Aber das Canterbury-Rhodes ist gerade mit seinen oben genannten Eigenheiten als dritte Alternative eine schöne und willkommene Ergänzung, die man gezielt mit diesem Charakter für begrenzte Zwecke einsetzen kann.

    • Profilbild
      Martin Andersson RED

      @defrigge Danke für Deinen ausführlichen Kommentar. Interessant, dass ich gerade bei verzerrten Klängen das Canterbury sehr überzeugend finde und mir das Scarbee weniger gut gefällt. So unterschiedlich können die Geschmäcker sein…

  2. Profilbild
    AMAZONA Archiv

    Also, mich überzeugt das PlugIn auch klanglich. Zum solieren bestens geeignet. Wie sich das im Mix so tut, kann man nur erahnen. Denke, dass man das ggf. hier und da etwas kastrieren müsste, da doch sehr phatter und dominanter Grundsound. Rhodes eben.

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