Das Interview zum PARADISE Soundtrack mit Martha Bahr (Panic Girl) & David Reichelt
Ein aufwendiger, deutscher Science-Fiction-Film, per se eine Seltenheit und dazu ein Elektronik-Soundtrack, der von einem Komponistenduo in Deutschland produziert wurde: Martha Bahr und David Reichelt. Martha, alias Panic Girl, ist vielen von euch sicher bereits ein Begriff, hatten wir sie doch bereits 2017 um ein Interview gebeten.
Inhaltsverzeichnis
David Reichelt ist als Filmmusik-Komponist längst kein Unbekannter mehr. Zahlreiche Spielfilme und Serien wurden bereits von ihm musikalisch untermalt. Für den NETFLIX SciFi-Spielfilm PARADISE von Boris Kunz, ließ er sich von Panic Girl unterstützen, die dafür im Film einen eigenen Credit bekam.
PARADISE, ein SciFi-Thriller von Boris Kunz
Einst waren Science-Fiction-Filme aus Deutschland das Maß aller Dinge. Leider ist es ein Jahrhundert her, dass Regisseure wie Fritz Lang kompromisslos ihre Visionen umsetzten, seit dem Ende des 2. Weltkriegs verkam der deutsche Film in Sachen Horror und Science-Fiction immer mehr zur Lachnummer.
Umso erfreulicher ist es, dass in den letzten Jahren ernsthafte Versuche stattfanden, dem Genre wieder eine Stimme, ein Bild und einen Sound zu geben.
Zugegeben das Sujet von Paradise ist nicht neu. Science-Fiction-Experten werden bei den Trigger-Worten, Übertragung von Lebenszeit gegen Geld, hellhörig. Weitgehend spoilerfrei.
Berlin, die nahe Zukunft. Ein mächtiger Konzern hat das wissenschaftliche Patent darauf, Menschen Lebenszeit abzukaufen und sie genetisch kompatiblen Kunden zu übertragen – für eine Menge Geld. Zwar kleidet sich das Unternehmen unter der Leitung von Sophie Theissen (Iris Berben) gern in Forschungsambitionen, doch am Ende zählt der Gewinn. Max (Kostja Ullmann) juckt das wenig, ist er doch der erfolgreichste Verkäufer von Lebenszeit-Deals, vorzugsweise an Flüchtlinge, die sich mit ihrem Opfer endlich eine Chance auf ein Bleiberecht erhoffen. Ernüchtert wird Max dann aber schnell, als seine Frau Elena (Marlene Tanczik/Corinna Kirchhoff) nach einem angeblich selbst verschuldeten Wohnungsbrand ihre hinterlegte Sicherheit zahlen muss: fast 40 Jahre Lebenszeit! Max versucht alles, um die Entnahme zu verhindern, doch das System ist gnadenlos.
Die Macher von Paradise hätten sich nun an dieser Stelle in Blockbuster Manier durch die Story schießen, sprengen oder rennen können. Stattdessen traut sich Paradise, philosophische Fragen zu stellen, wie es sich für jeden guten Science-Fiction-Film gehört. Denn so plump die Ausgangslage auf den ersten Blick auch scheint, die Frage danach, ob brillante Wissenschaftler oder Künstler der Welt nicht länger erhalten bleiben sollten, als die Natur es vorsieht, lassen sich nicht so einfach wegwischen, zumindest ein Gedankenspiel im Kopf werden die meisten Zuschauer/innen durchaus zulassen. Und die Macher bringen ihre Geschichte auch mit einer Konsequenz zu Ende, die sich nicht als reine Unterhaltung abtun lässt. Gerade weil der Film nicht alle offenen Fragen beantwortet und einige Ereignisse ganz bewusst im Dunkeln lässt.
Da nun Bild und Ton idealerweise ein stimmiges Gesamtkunstwerk ergeben sollen, widmen wir uns nun dem Score. Und hier kommen David Reichelt und Martha Bahr aka Panic Girl ins Spiel. David Reichelt verantwortete als Komponist nun schön diverse Produktionen. Hier sei auf den Score zu den Serien „Hindafing“, „Tage, die es nicht gab“ und „Tatort: Dreams“ verwiesen. Mehr am Ende des Interviews.
Martha Bahr aka Panic Girl hatten wir 2017 schon zum Interview. In der Zwischenzeit ist eine Menge passiert. Aber hier machen wir mal elegant einen Bogen und landen punktgenau bei Synthesizern, ARP 2600 und Filmmusik im allgemeinen und speziellen.
An dieser Stelle herzlichen Dank an Martha und David für Zeit und die Beantwortung der Fragen.
Interview mit den Komponisten David Reichelt und Martha Bahr
Toby:
Ich habe grad noch mal die Netflix Chart bemüht, der Film ist jetzt eine Woche veröffentlicht und auf Platz 2 der globalen Charts, da kann man euch nur gratulieren.
David/Martha:
Vielen Dank!
Toby:
Wie kam es zu eurer Zusammenarbeit bei Paradise? Es ist ja so, dass Synthesizer-Musik in deutschen Filmen eher unterschwellig wahrzunehmen ist. Und für mich scheint es so, dass hier gerne ein Bogen darum gemacht wird?
David:
Ich wurde sehr früh für das Projekt angefragt, da ich bereits mit dem Regisseur und der Produktionsfirma schon mehrfach zusammengearbeitet hatte. Netflix hatte darum gebeten, dass das Musik-Team auch noch weibliche Unterstützung bekommt. Das fand ich ziemlich cool, dass gerade die großen Streamer wie Netflix auf Gender-Gerechtigkeit achten. Für mich hat sich in Bezug auf dieses Projekt dadurch nochmal viel verändert, da ich ja normalerweise, wie du auch an meinen Referenzen gesehen hast, immer allein an der Musik sitze, Sound-Konzepte und Musik ausarbeitete und umsetze. Das hat mir ein neues Fenster eröffnet. Ich habe viel darüber nachgedacht, was der größte Zugewinn für die Musik wäre und dadurch bin ich auf Martha gekommen. Es war auch ganz leicht zu sagen “Hey, das wird super funktionieren.” Es ergibt immer Sinn, mit Leuten aus anderen Bereichen zu arbeiten, die einem einen neuen Blickwinkel eröffnen, die Experten auf einem Gebiet sind, auf dem man sich zwar selbst auskennt, aber lange nicht das umsetzen kann, wie in diesem Fall Martha im Bereich der Synthesizer.
Ein Freund hatte mich auf Martha aufmerksam gemacht und ich war einfach nur begeistert, wie Martha mit Klängen umgeht. Wir haben im Januar 2022 das erste Mal telefoniert und waren gleich auf einer Wellenlänge. Ich hatte ihr von meiner ersten Vorstellung über die musikalischen Farben im Film erzählt und ab da ging es schon los, dass wir mit Ideen gespielt und gemeinsam das Konzept weiterentwickelt haben. Dann haben wir uns direkt entschlossen, für diesen Film die Musik zusammen zu produzieren.
Toby:
Was war die erste Idee, die Themen von Paradise umzusetzen? Hatte ihr schon Instrumente, Stimmungen im Kopf?
Martha:
Dass Synthesizer eine große Rolle spielen sollten, war relativ bald klar. Wenn man mal mein Studio betreten hat, ist eine gewisse Tendenz zu diesen Instrumenten sehr schnell erkennbar (lacht). Ich bin insbesondere davon begeistert, dass man mit diesen Instrumenten seine Sounds von Grund auf designen kann, dass man die Klänge, die man im Kopf hat, durch verschiedene Texturen und Timbres selbst erzeugen kann. Durch unsere Zusammenarbeit war bald klar, dass wir viel mit Synths arbeiten möchten, aber nicht ausschließlich. David hat auch noch einige Musiker mit an Bord gebracht, die er aus früheren Projekten kannte: einen Schlagzeuger, Gitarristen, Posaunisten, zwei Sänger sowie einige Vokalistinnen.
Das Wichtigste war für uns, dass die Musik, die Stimmungen und Instrumente mit dem Film harmonieren. Sobald wir die ersten Aufnahmen von Paradise zu sehen bekamen, haben wir schnell gemerkt, was der Film braucht, was funktioniert und was nicht funktioniert. Gerade am Anfang haben wir uns die Zeit genommen und vieles ausprobiert.
David:
Absolut. Ja, ich kann auch nur eine Sache ergänzen. Wie Martha schon gesagt hat, war sehr schnell klar, was wir machen wollten. Das Konzept ist so gesehen stabil geblieben und hat sich nur in einer Hinsicht ein wenig verändert. Wir hatten anfangs geplant, zusätzlich mit Orchester zu arbeiten. Dazu gab es auch schon einige Szenenentwürfe, aber am Ende ist es ganz schön bunt für einen zweistündigen Film geworden und wir haben alle orchestralen Parts auf die Vocals und Synthesizer verteilt. Es ist daher noch eine leichte orchestrale Anmutung in der Musik wahrnehmbar.
Martha:
Genau. Es kann auch sein, dass man an der ein oder anderen Stelle denkt, Streicher zu hören, aber es sind tatsächlich Synth-Sounds. Für die Stellen habe ich viel Zeit investiert und mehrere Synthesizer gelayert, um die richtige Textur und das richtige Timbre zu erzeugen. Die Spuren klangen am Ende sehr zart und fragil, eine Facette, die ich an Synthesizern sehr mag. Satte Bass-Töne oder auch aggressive Lead-Sounds sind ja sehr etablierte Sounds in dem Bereich, aber sie können auch sehr sanft, weich und zerbrechlich klingen. So auch zum Beispiel bei “Separation”, ein Track, der zu einer meiner Lieblingsstellen im Film gehört.
Toby:
Also da würde ich jetzt noch mal nachfragen, war das eine bewusste Entscheidung, auf ein klassisches Orchester zu verzichten? Für mich wäre das over the top gewesen.
David:
Das war genau der Grund, warum wir uns am Ende auch gegen Orchester entschieden haben. Wir wollten natürlich das Orchester modern einsetzen und nicht im traditionellen Sinne, haben aber schnell festgestellt, dass der Soundtrack viel klarer wird, wenn wir uns auf die Grundfarben fokussieren.
Zum Werdegang von David Reichelt
Toby:
Dein bisheriges Werk umfasst eine Oper, diverse Filme und Serienscores, Science-Fiction ist für dich auch neu. War die Herangehensweise hierfür auch neu oder hast du hier auf Erfahrungen aus früheren Projekten zurückgreifen können?
David:
Eigentlich ist es nicht mein erster Science-Fiction Film, das ist nur in meiner Vita nicht ersichtlich. Es ist auch schon ein paar Jahre her, da habe ich während meines Studiums sehr viele Studenten-Filme vertont. Also wirklich viele, so 50 bis 70 Filme und da sind auch schon ein paar Science-Fiction-Filme dabei gewesen. Daher war mir das Genre gar nicht so fremd. Die Erfahrungen betreffen nicht so sehr das Genre, sondern mehr die Arbeitsweise. In der Filmmusik geht meist alles sehr schnell und die Abgabetermine sind immer nah, daher muss man sich wirklich gut überlegen, wie man sein Budget sinnvoll einsetzt und mit der Zeit möglichst effizient umgeht. Ich arbeite seit Jahren mit einem Team von Musikern zusammen, da hat man seinen Workflow, alles funktioniert, es gibt keine Überraschungen und davon profitiert man natürlich.
Wir hatten für eine deutsche Produktion viel Zeit. Es war ein halbes Jahr, in dem wir durchgehend an der Musik gearbeitet haben und so gesehen hätten wir auch locker noch ein weiteres halbes Jahr daran arbeiten können. Man kann einfach immer tiefer in die Materie eintauchen und die Filmmusik immer facettenreicher, detailreicher gestalten. Wir haben gemeinsam viel Zeit vor den Synthesizern verbracht, Klänge kreiert, diese mehrfach gedoppelt mit anderen Einstellungen, anderen Effekten und auch musikalische Varianten aufgenommen. Das haben wir über Monate lang gemacht. Mit vier Händen kann man natürlich mehr Automationen gleichzeitig fahren als alleine. Wir haben uns im Raum vor den Geräten verteilt und live zum Bild die Sounds ganz individuell eingestellt und verändert. Das hat viel Spaß gemacht.
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Der erste Score von Panic Girl
Toby:
Soweit ich mich erinnern kann, ist Paradise dein erstes Feature für einen Filmscore? War für dich von vorne herein klar, welche Instrumente du nimmst?
Martha:
Ja genau, Paradise war mein erster Score. Ich wollte schon immer gerne in die Filmbranche eintauchen, aber es ist nicht die einfachste Branche, um Fuß zu fassen. Umso glücklicher war ich dann, als David mich fragte, ob ich Interesse habe, mit ihm an dem Projekt zu arbeiten. Gerade auch, weil er schon so viel Erfahrung in dem Bereich hat. Ich bin zwar auch schon seit Jahren als Komponistin tätig und bin es gewohnt, themenbezogen zu arbeiten. Ich arbeite zum Beispiel für den Bayerischen Rundfunk und komponiere dort Musik für verschiedene Redaktionen, unter anderem für die Politik oder für Kinderhörspiele oder auch für die Wissenschaftsredaktion beispielsweise. Aber einen Filmscore zu komponieren, ist noch mal etwas ganz Besonderes. Mit welchen Instrumenten ich ins Rennen gehen würde, war relativ bald klar. Ich hatte hier und da auch mal eine Klavier-Spur eingespielt oder andere Instrumente ausprobiert, aber die meisten haben wir dann doch wieder mit Synthesizer-Sounds ersetzt, unter anderem auch, um das Klangbild homogen zu gestalten. Und auch, weil man mit Synthesizern sehr vielschichtige Klänge erzeugen kann, die teils sehr anders, neu und modern klingen können. In dem Bereich hat man wahnsinnig viele Möglichkeiten.
Toby:
Deinen ARP 2600 höre ich relativ deutlich im Arrangement heraus. War dir das von vornherein klar, dass du ihn einsetzen wirst?
Martha:
Absolut. Ich habe ihn davor sogar noch mal zur Reparatur gebracht, weil er ein paar Macken hatte und ihn dann knapp zu Beginn des Projekts wieder bekommen beziehungsweise abgeholt. Er ist ja auch schon ein ganzes Stück älter als ich (lacht) und hat einfach wahnsinnig viel Textur im Klang, so viel Charakter, so viel Tiefe. Das sind natürlich alles recht überbeanspruchte Beschreibungen, aber es stimmt bei diesem Gerät einfach. Er beherbergt eine ganz eigene Klangwelt, die auch im Film sehr schön zur Geltung kommt.
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Aber wir haben auch andere Synthesizer eingesetzt. Moog zum Beispiel für klassische Bass-Sounds und auch Eurorack-Systeme. Da haben wir vieles ausprobiert. Für Verzerrungen zum Beispiel haben wir oft das Plasma Modul von Gamechanger Audio verwendet, für cremige Reverb-Effekte das Starlab Modul von Strymon sowie das Magneto Modul für Delay-Effekte mit seinen sehr charaktervoll klingenden Zusatzfunktionen wie Tape-Age und Crinkle.
Entwicklung
Toby:
Wie der Film, macht auch der Score eine Wandlung durch, nach der Eröffnung kommt mit „I can see clearly now“, ein Johnny Nash Cover. Im Verlaufe des Films wird der Sound immer schwerer und düsterer. Zwischendrin immer mal wieder kleine Highlights wie die Chorgesänge. Habt ihr bei der Umsetzung Vorgaben durch die Produktion erhalten? Oder hat sich die Anordnung und Reihenfolge für euch ergeben?
David:
Wir hatten zum Glück große Freiheiten, was das Konzeptionelle betraf. Zu Beginn des Projektes waren wir insgesamt noch düsterer und sind im Verlauf der Arbeit treibender in der Musik geworden.
Der Gesang war schon zu Beginn ein wichtiger Bestandteil des Konzeptes, wurde aber erst im letzten Monat der Produktion aufgenommen. Die Stimmen haben wir stark manipuliert und das Timbre verfremdet. Das Timbre moduliert innerhalb einzelner Szenen und nimmt damit die Thematik Alterung und Verjüngung auf. Wir haben mit der Überlegung gespielt, für die letzte große Montage-Sequenz mit einem Kinderchor zu arbeiten. Da es aber inhaltlich um deutlich verjüngte Menschen ging, haben wir auch hier mit erwachsenen Sängerinnen gearbeitet, die wir durch die Modulation des Timbres kindlicher klingen haben lassen.
Martha:
Stimmt, die düsteren Elemente waren am Anfang schon sehr präsent. Es war dann von Seiten der Produktion sowie von uns gewünscht, mehr Spannung reinzubekommen, mehr Bewegung, mehr Drive. Solche Entscheidungen wurden im Dialog mit der Produktion getroffen. Es gab regelmäßige Meetings, wir haben uns meist in Davids Studio zusammengesetzt, uns gemeinsam Szenen angesehen, besprochen, überlegt, was man optimieren kann, was passt, was noch nicht passt. Das alles lief sehr organisch.
David:
… und bezüglich des Songs „I can see clearly now“: Es war der Wunsch von Netflix und der Produktion, einen bekannten Song zu verwenden, der das Publikum in dieser ersten Sequenz abholt. Diese Sequenz ist etwas tricky, da wir sehr kontrastierende Blickwinkel haben, die miteinander vereint werden müssen. Man sieht den Hauptdarsteller durch ein Ghetto gehen. Er interessiert sich aber nicht für das Leid. Er ist ganz bei sich, da er gerade ein gutes Geschäft abgeschlossen hat. Musikalisch unterstützen wir seine Stimmung mit diesem Song, färben ihn aber in unsere Klangwelt von Paradise ganz neu ein.
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Produktion
Toby:
Was war eure Herangehensweise an die Produktion? Habt ihr euch mit dem fertigen Film eingeschlossen?
Martha:
Wir haben direkt vom ersten Tag an, als die Dreharbeiten anfingen, Links zugeschickt bekommen und konnten in alle Aufnahmen reinsehen. Das fand ich sehr spannend, auch um einen Eindruck zu bekommen, wie zum Beispiel die Locations aussehen. Es spielt ja immer eine sehr große Rolle, wie die Bilder auf einen wirken. Und dann haben wir direkt angefangen, Ideen zu sammeln. Zum einen haben wir uns gegenseitig schon existierende Songs zugeschickt, deren Stimmung und Sounds wir gut fanden. Das war hilfreich, um herauszufinden, in welche Richtung wir uns bewegen möchten, weil es ja unsere erste Zusammenarbeit war und wir uns musikalisch erstmal kennenlernen mussten. Im nächsten Schritt haben wir angefangen, eigene Ideen und Klänge zu sammeln.
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Mit diesem musikalischen Brainstorming haben David und ich dann jede freie Minute verbracht. Wir haben uns auch mit der Produktion zusammengesetzt und besprochen, was gefällt, was gefällt nicht? Das war wichtig, damit man möglichst schnell eine gemeinsame Route findet und dann genau darauf aufbaut, um alles weitere anzugehen. Das hat super funktioniert. Es hat sehr viel Spaß gemacht, eine Klangwelt zu erschaffen, Texturen zu entwickeln und dann mit diesen Klängen an die Motive ranzugehen oder auch umgekehrt. Für eine Stelle im Film zum Beispiel saßen wir hier im Studio und haben an den Eurorack Modulen verschiedenes ausprobiert. Als wir dann ein interessantes Knistern und Rauschen entdeckten, meinte David, dass wir es unbedingt aufnehmen sollten. Dieser Sound wurde später die Grundlage für eine ganze Szene in Paradise. Es gibt immer wieder solche happy Accidents, wenn man sich gemeinsam im Studio einschließt und viel experimentiert.
David:
Ja, wir hatten in diesen fetten Brass-Sounds auch ein Feedback, das immer in dem Moment entstanden ist, wenn der Ton ausgesetzt hat. Das fanden wir beide so stark, dass wir es jedes Mal aufgedreht haben. Auf dem Soundtrack ist das der fünfte Track, “This Is Madness”, in dem man das Feedback sehr gut hören kann.
Martha:
Genau, das ist gegen Ende des Films in der Szene zu hören, in der es viele Explosionen zu sehen gibt. Der Sound kam von einem Eurorack Modul, genauer gesagt von Strakal von TouellSkouarn. Normalerweise würde man so ein “Störgeräusch” wohl eher filtern, hier ist es ein tolles Feature im Film.
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Die eingesetzten Synthesizer
Toby:
AMAZONA.de ist ja nun nicht unbekannt für Synthesizer. Welches Equipment habt ihr eingesetzt? Welche Kriterien hattet ihr bei der Auswahl?
Martha:
Soll ich mal anfangen?
David:
Sehr gerne ja.
Martha:
Der ARP 2600 hat, wie schon vorher erwähnt, eine große Rolle gespielt. Dann haben wir von Moog oft den Matriarch Synth benutzt, um schöne satte Bässe aufzunehmen. Aber auch viele andere Sounds haben wir mit ihm designt, wie zum Beispiel verschiedene Flächen, zusätzliche Layer für Lead-Sounds, Arpeggios. Auch das Delay klingt wunderschön sowie das Filter, das bei Moog immer sehr prägnant klingt. Gerade was zum Beispiel Filterfahrten anbelangt, haben wir uns relativ zum Ende des Projekts hin noch mal zusammen an die Regler gesetzt und viele Spuren neu aufgenommen, während wir zum Beispiel den Filter-Cutoff und andere Parameter live gefahren haben. Darüber hinaus hatte ich noch einen Buchla für die Produktion zur Verfügung und viele Eurorack Module, mit denen wir viel experimentiert haben.
David:
Genau. Mir fällt noch der MOOG DFAM ein, mit dem sind wir den kompletten Film auch mehrfach durchgegangen und haben die Rhythmik verstärkt.
Martha:
Ja, stimmt, der war sehr wichtig für die Drumsounds, wie auch das Polygogo Modul, mit dem wir überraschend kraftvolle Sounds gebaut haben. Das Subharmonicon haben wir auch an ein paar Stellen verwendet. Das sah spannend aus, es waren von der einen bis zur anderen Seite des Studios lange Kabel gepatcht, über die wir teilweise drüberklettern mussten (lacht). Abgesehen von Synthesizern haben wir natürlich auch noch andere Instrumente verwendet, wenn du weitermachen möchtest, David.
David:
Wir haben die Synthesizer auch noch mal mit E-Gitarre gedoppelt. Posaune hört man im Film an vielen Stellen, in denen man es nicht vermuten würde. Der Posaunist durfte die gesamte Session keinen einzigen geraden Ton spielen, er hat die tiefsten und höchsten Register zum Klingen gebracht. Alles wurde mehrfach gedoppelt, teilweise auch mit Gesang. Die Spuren haben wir darauf gebündelt, durch Effekte gejagt und verzerrt.
Wir haben auch viel akustische Perkussion und Schlagwerk aufgenommen. Größtenteils waren es ganz leise, weiche Töne mit warmem Klang, die in der Bearbeitung deutlich mehr Volumen und Präsenz bekommen haben und gerade in den lauteren Passagen der Musik zum Einsatz gekommen sind.
Du hattest gerade noch nach Kriterien gefragt. Kriterien für uns waren, dass wir ein warmes Klangbild bekommen wollten. Ich finde, dass bei Science-Fiction die Gefahr groß ist, dass der Sound kühl wirkt und alles artifiziell wird. Ganz wichtig war auch, dass es hart und brutal klingen sollte, sehr verzerrt, um größtmögliche Kontraste zu den emotionalen zarten Stellen zu bekommen. Ich habe unserem Tonmischmeister gesagt, er soll den Mix richtig an die Wand fahren, dass Hans Zimmer ins Schwitzen geraten würde, wenn er diese Musik hört. Das hat er dann auch erfolgreich gemacht würde ich sagen. Lieber Hans Zimmer, gib mir gerne Bescheid, ob wir unser Ziel auch erreicht haben.
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Vom Bild zum Score
Toby:
Der Film greift ja nun die „großen Themen“ auf, wir haben grob formuliert Kapitalismuskritik, Flüchtlinge und Polizeigewalt thematisch in Paradise umgesetzt. Wie setzt man hier die Bilder in Sound um?
David:
Ja, wir sind laut in der Musik, machen richtig Krach und sind aber mit der Musik gar nicht so politisch, sondern sehr nah an den Charakteren und deren Innerem dran. Eine Stelle, die mir dazu spontan einfällt, ist Minute 45, wenn der Hauptdarsteller Max am Friedhof ist. Ohne etwas zu spoilern, man hat wahrscheinlich schon heftigere Szenerien gesehen, aber für Max ist diese Situation das Krasseste, was er je erlebt hat, daher ist die Musik in der Szene schon auf Anschlag und das war immer unser Ansatz, aus der Perspektive der Charaktere zu erzählen.
Martha:
Genauso auch bei den nachdenklichen oder den bedrückenden Stellen, zum Beispiel, wenn es um Elena ging. Ich werde jetzt auch nicht zu sehr spoilern. Aber auch an den Stellen haben wir die Instrumente, die Sounds so gewählt, dass sie sehr nah bei ihr sind. Sehr zart, sehr nachdenklich, um so Elenas Gefühlswelt zu unterstützen.
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Toby:
Synthesizer in der Filmmusik. Man assoziiert unbewusst Yamaha CS-80, Vangelis und Bladerunner für SciFi-Dystopien. Nach dem Hören von Paradise fiel mir auf, ihr geht bewusst einen eigenen Weg. Auf der einen Seite Anklänge an die Berliner Schule, dubbige Bässe, Chöre oder Popsongs. Hat sich das für euch ergeben?
David:
Das war genau unser Ansatz. Wir wollten eine eigene, neue Klangwelt für Paradise erschaffen und deiner Aussage nach, würde ich folgern, dass es uns gelungen ist.
Wenn man sich durch die Musik an einen anderen Film erinnert fühlt, ist man nicht mehr in der Geschichte, sondern denkt zum Beispiel an Blade Runner. Ich finde, man kann anhand der Bilder im Film sehr schnell erkennen, was der Film benötigt und was ihm fehlt. Die Umsetzung eines neuen Konzeptes ist dann wieder sehr aufwändig, da man nicht auf bekanntes zurückgreifen kann. Man muss selbst herausfinden, was wird funktionieren und was nicht.
Martha:
Absolut, das finde ich auch sehr wichtig. Es gibt all die großen Komponisten, die fantastisch sind und mit ihrer Musik, ihren Scores begeistern. Aber die gibt es eben schon und genau deswegen sollte man seine eigene Stimme finden. Das war uns gerade bei Paradise sehr wichtig. Wir wollten unsere eigene Klangwelt erschaffen und nicht versuchen, jemanden zu imitieren, der schon bekannt ist.
Famous Last Words
Toby:
Famous last words …
David:
Ja, also erst mal würde ich gerne kurz loszuwerden, dass es einfach super viel Spaß gemacht, mit Martha an diesem Projekt zu arbeiten.
Martha:
Dito!
David:
Und ich finde, wir haben da einen richtig coolen Soundtrack geschaffen. Also an die, die das jetzt lesen. Hört euch den Soundtrack an, schaut den Film „Paradise“ auf Netflix und wer weiß, vielleicht gibt es ja auch noch einen Teil 2.
Martha:
Da kann ich mich nur anschließen. Ich würde auch sehr gern an einem zweiten Teil arbeiten oder einer Serie zu Paradise. Ich habe sehr viel dabei gelernt, spannende Einblicke bekommen, auch dazu, wie David arbeitet, wie die Zusammenarbeit mit der Produktion und mit Netflix läuft. Und dann bei der Premiere des Films dabei zu sein, den Film mit anderen gemeinsam anzusehen, war auch ein tolles Erlebnis. Ich hoffe auf eine Wiederholung!
Toby:
Ich unterstütze das. Ich würde sogar Leserbriefe an die Produktionsfirma schreiben.
Martha und David:
Super!
Toby:
Wie stehen die Chancen, dass es noch ein Paradise 2 gibt?
David:
Wenn der Film weiterhin Erfolg hat, wäre ich verwundert, wenn es keinen zweiten Teil geben würde. Der Film wird vom Publikum sehr gut angenommen. Er ist seit zwei Wochen weltweit auf Netflix – von den nicht amerikanischen Produktionen – auf Platz 1 und das ist ja wirklich fantastisch für eine aus amerikanischer Sicht verhältnismäßig kleine Produktion. Ich glaube, dass „Paradise“ in Deutschland aber die bisher größte Science-Fiction-Produktion war.
Toby:
Also ich glaube, seit Roland Emmerich aus Deutschland weg ist und in Hollywood dreht, ist da nicht mehr allzu viel gelaufen.
Martha:
Und Dark?
Toby:
Ist es für mich ist eher Mystery. Aber ich sage mal, der deutschen Filmindustrie täte mal ein „Stranger Things“ ganz gut. Das würde sicherlich mal einen frischen Wind reinbringen.
Martha:
Falls das jemand liest und ein deutsches Stranger Things produzieren möchte, wir wären zu haben. (lacht)
David:
Ja, definitiv.
Toby:
Ich bin dabei und leihe euch gerne Equipment, hier meine EHX Clockworks, gut für Arps in verschiedenen Tempi. Oder meine Instant Ambient Maschine von EHX, der Random Tone Generator, macht nur zufällige Tone und Glissandi in diversen Tempi. Meine Vintage FX dürft ihr auch benutzen.
Martha und David:
Lachen.
Toby:
Falls ihr nächstes Jahr im Mai zur Superbooth kommt, ich lade euch herzlich zum AMAZONA.de Stammtisch ein.
David:
Das klingt fantastisch.
Toby:
Danke für das Gespräch euch Beiden.
David und Martha:
Sehr gerne. Vielen Dank auch.
Danke für den Seh-/Hörtip, obwohl, habe Netflix gerade abbestellt und mehr Bücher gekauft, sorry….. Hör mir die Musik aber definitv an! 😉
Großartiger Beitrag – schönes Interview. Kompliment! Das Thema Filmmusik kommt ja nicht so oft hier zur Sprache.
Leider wurde die Freude am Lesen durch einige Copy&Paste-Fehler etwas getrübt. Vielleicht vor dem Go nochmal genauer durchlesen – dann wäre der Artikel geradezu perfekt. Macht aber nix, hat auch so Spaß gemacht. Herzlichen Dank.
@fitzgeraldo Ja wollte ich auch gerade schreiben. Einige Passagen sind doppelt Bzw. Unklar wohin sie gehören. Das sollte vom Author noch überarbeitet werden.
Ansonsten ziemlich interessant das Interview.
Hör mir jetzt gerade den Score an. Hut ab, ganz großes Kino. Im wahrsten Sinne.
Wird ganz sicher noch öfters bei mir am virtuellen Plattenteller liegen …
„i can see clearly now“ – hey wie geil!
Der Film selbst ist Nebensache, aber die Musik hat mich um. Gibt es einen Soundtrack?
Danke für diesen Tollen Bericht über die genialen Sounddesignern und Produzenten!
@moon Lieben Dank! Ja, den Soundtrack kannst du unter diesem Link hier finden: https://open.spotify.com/album/28MgwnWXczwOdvcpFCZUoK?si=kG0mhZM2RKCDr2YYeUVBzw
@Martha Bahr Danke für den Link! War sehr ätherisch und gut anzuhören, fast schon trippy. 😎
Ein wirklich tolles Interview und der Soundtrack ist auch richtig gut .
Aber irgendwie viel zu Groß und Episch für diesen sehr mittelmässigen Film .
Der Film ist ja eher ein Tatort und der Soundtrack eher was für Dune der Wüstenplanet.
Danke für das Interview ☺️👍
Zitat: … verkam der deutsche Film in Sachen Horror und Science-Fiction immer mehr zur Lachnummer.
Akgekoppelt von der hier beschriebenen Filmusik,
wird bei deutschen Film/Serienproduktionen immer sofort weggeschaltet. Die Beschreibung des Filminhalts untermauert dies, Xfach ausgelutscht war mein erster Gedanke.
Ah, Auswahl der Künstler bei Netflix funktioniert jetzt auch schon wie Literaturnobelpreis. nuff said.
Respekt !!!
Ich glaube, Edgar hätte die Musik gefallen. Der Film wohl weniger…
Habe angefangen den Soundtrack zu hören, um dann doch vor Ende wieder auszumachen.
Das ist typisch Hollywood Bombast Sound. Schön verzerrt, viel Bass, etwas Pitch Shifting und dann als Kontrast liebliche Stimmen mit viel Hall.
OK, das ganze hat immerhin eine eigene Signatur durch den ARP.
Es ist wohl das, was heute beauftragt wird.
Die Musik braucht den Film und umgekehrt, sonst funktioniert es nicht.
Von daher, gute Arbeit.
@Stratosphere „ Es ist wohl das, was heute beauftragt wird.
Die Musik braucht den Film und umgekehrt, sonst funktioniert es nicht.“
Richtig. Wobei Dein „heute“ inzwischen beinahe 130 Jahre andauert. ;-) Ob anfangs live mit dem Tastenhauer, später mit Orchesterschmalz oder heutzutage quasi ohne Limit: Film ohne Musik ist wie Moog ohne Mini.
Die Musik gefällt mir gut, aber der Film war ziemlich öde. Schade, hatte große Erwartungen.
Den Film werde ich mir nach der Beschreibung mit Sicherheit nicht antun – wenn ich schon gefärbte Begriffe wie „Kapitalismuskritik“ lese, wird mir unangenehm. Das gilt für so viele deutsche Filme der +/- Gegenwart: die genialste Technik, die besten Kameraleute, und dann Primitivpädagogik und zwangsneurotische Politisierung. Schade, das Deutschland, wo einst der Film erst überhaupt von Kirmes zur Kunst erhoben worden war, seit Ewigkeiten so hilflos auf diesem Gebiet zurückbleibt. Das sagt der Kollege im Interview ja auch.
Hier geht es aber über die Musik, und die gilt zum Glück als asemantische Kunst. :-) Auf jeden Fall kann das, was ich davon gehört habe, sehr gut von alleine für sich stehen – und wie! Dieses Glück, selbstständig zu werden, können bekanntlich bei weitem nicht alle Scores für sich verbuchen. Chapeau und danke für das wunderschöne Gespräch