AMAZONA.de-Autor Walter Marinelli: 10 Alben, die mein Leben veränderten
Servus, mein Name ist Walter Marinelli und ich schreibe hier ab und zu mal Artikel über
DJing und das dafür benötigte Equipment. Das kann ich nur tun, weil ich zwar schon ein Techniknerd bin, dies aber ehrlich gesagt nur wurde, um meiner liebsten Beschäftigung nachgehen zu können, nämlich Musik mit anderen Menschen zu teilen. Ich kann mit Fug und Recht behaupten, dass das keine Koketterie ist und ich nicht in Wirklichkeit für den Ruhm und die Weiber DJ geworden bin. Die Sache ist nämlich die: Als ich mit der Auflegerei angefangen habe, waren die 80er-Jahre noch nicht ganz vorbei und es gab nichts Unsichtbareres als den DJ im Club, äh, in der Diskothek, wie man damals meistens sagte. Ja, richtig gehört, die Plattenleger waren nicht mal uncoole Nerds, das wäre schon viel zu viel Aufmerksamkeit gewesen für die Typen, die in irgendeiner Ecke hinter den Decks standen und die Musik aussuchten.
Wir standen nicht auf den Flyern, aber dafür standen wir garantiert so lange im Laden, dass jeder potentiell interessante Mensch lange weg war, bis wir Feierabend hatten. Selbstverständlich gab es in diesen Tagen nur einen Slot in der Booth. Lasst es mich so sagen: Als DJ sah man damals zwei Mal Putzlicht. Am Anfang und am Ende der Nacht.
Ist klargeworden, dass ich den ganzen Wahnsinn wirklich wegen der Musik gemacht habe und immer noch mache? Gut.
Ich sag’s gleich, Musik geht mir tief unter die Haut, es wird von Blut, Schweiß und Tränen die Rede sein. Und von Liebe. Sehr viel Liebe. Wenn ich sage, diese Alben haben mein Leben verändert, dann ist das buchstäblich so.
Wer nicht mit gefühlduseligen Geschichten klarkommt und es nicht versteht, wie Tränen fließen können, nur weil der Luftdruck sich periodisch verändert, ist hier falsch. Alles klar? Na dann los!
Steve Reich – Music for 18 Musicians
Prototechno
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„Irgendwann, wenn ich mal alt bin, werde ich sicher auch Zeit finden, klassische Musik zu hören und lieben zu lernen.“ So dachte ich tatsächlich mal, denn dass Orchestermusik nicht nur soundtechnisch etwas zu bieten hatte, war mir schon klar. Nur, die Lust, meine begrenzte Zeit ohne Groove zu verbringen, war halt nicht so ausgeprägt. Und dann traf mich „Music for 18 Musicians“ vollkommen unerwartet wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
Anstatt mich an die Strukturen klassischer Musik zu gewöhnen, hatte ich Orchestermusik gefunden, die so sehr Techno war, dass es fast ein bisschen weh tat. Track-Strukturen anstatt Symphonien, einfache kurze Melodieschnipsel, die sich endlos wiederholten, Phasenverschiebungen, Instrumente, die wie Stimmen klangen, Stimmen, die Instrumente nachahmten. Und über allem diese formale Einfachheit und Strenge. Dank Steve Reich habe ich verstanden, was „Trance“ wirklich ist und wie sehr Musik hypnotisieren kann. Ich schwöre, ich hatte einer außerkörperliche Erfahrung in einer von Steve Reich induzierten Trance! Ausgerechnet ich, der jeder Form von Spiritualität sehr skeptisch gegenüber steht!
Monatelang hörte ich nichts anderes mehr als Neue Musik und Neoklassik. Entweder, ich war alt geworden oder Klassik hatte mich einfach mit ziemlich unfairen Methoden übers Ohr gehauen.
Fast ebenso prägend war ein paar Monate später der andere große Klassiker der Minimalmusik, Terry Rileys „In C“, aber Steve Reich kam zuerst und hey, „It’s never as good as the first time“, oder?
Keziah Jones – Blufunk is a Fact
Trio Infernale
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Ich weiß bis heute nicht, was mich an der Rezension von Keziah Jones’ „Blufunk is a Fact“ im altehrwürdigen Musikexpress so angesprungen hat, aber es war das erste und einzige Mal in meinen Leben, dass ich ein Album aufgrund einer Rezension blind gekauft habe. Vielleicht war es die Geschichte eines nigerianischen Diplomatensohns, der Straßenmusik machte, vielleicht das geile blaue Cover, vielleicht war es Arno Frank Esers Schreibe, ich kriege es nicht mehr zusammen. Fakt ist, es gibt kaum ein Album, das ich öfter gehört habe. Keines, das heute noch so relevant ist, wie vor fast 30 Jahren. Jones’ einzigartiges Gitarrenspiel fasziniert und überrascht mich jetzt, während ich das Album für diesen Artikel noch mal höre, genauso wie damals.
Wie kann ein Trio mit Schlagzeug, Bass und akustischer Gitarre funkiger sein als jede andere Band, die ich gehört habe, mehr rocken als Motörhead und zeitloser für mich sein als ZZ Top?
Ich habe keine Ahnung, aber mit meiner Gänsehaut könnte man gerade den Putz von der Wand schaben. Echt mal! Wenn dieser Teil des Textes länger als die anderen ist, dann nur, weil ich einfach nicht aufhören will, dieses epochale Werk anzuhören.
Sollte ich einmal nicht weinen, wenn „Where’s Life“ läuft, empfehle ich nachzusehen, ob ich noch am Leben bin.
Gleichzeitig ist Blufunk is a Fact auch das Symbol einer ewigen Enttäuschung, denn Keziah Jones konnte mich nie wieder auch nur ansatzweise so erreichen, wie mit seinem Debüt. Jahrelang habe ich mir alles, was er veröffentliche, mit größtmöglicher Erwartungshaltung auf die Ohren gegeben, jahrelang war der Frust danach riesengroß. Und das lag sicher nicht daran, dass Keziah Jones keine gute Musik mehr veröffentlicht hätte, aber Blufunk Is A Fact ist einfach MEIN Album. Es ist durch und durch perfekt. Vergesst nie, Rhythm is Love und Blufunk is a fucking Fact!
La Brass Banda – Habe die Ehre
Techno
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Eines Tages drückte mir ein Freund eine selbstgebrannte CD in die Hand, auf die „Habe die Ehre“ gekritzelt war und meinte nur mit einem leicht belustigten Blick, ich müsse mir das unbedingt anhören. Er stammte aus Niederbayern, schien aber bis auf einen sehr angenehmen Akzent keine große Verbindung zu seiner Heimat zu haben. Er stand meines Wissens nur auf für mein Dafürhalten ziemlich steifen Techno, also erwartetet ich elektronisches Geschepper. In der nächsten Stunde saß ich dann mit offenem Mund auf meiner Couch. Was zum Fick hatte ich da eben erlebt? Ich mein, ich mochte Funk und so, ich wusste schon, dass Bläser ganz schön Druck erzeugen können. Und als echtes Münchner Kindl war ich durchaus vertraut mit querschädeligem Blasmusik-Pop-Crossover wie ihn die besseren Oktoberfest-Combos draufhaben. Aber nichts hatte mich auf die schiere Wucht dieser Band vorbereitet. Rustikal im Sound wie eine klassische Blaskapelle und dabei gleichzeitig, was Virtuosität betrifft, auf einem Level, das sich problemlos mit Herbie Hancocks klassischen Alben messen konnte, drückten mich die fünf Musiker in die Couch wie eine zur Bong umgebaute Tuba. Alter? Was war das eben? Wie kann eine so kleine Band so dermaßen das Bierzelt einreißen, während sie knietief in Jazz und ja, Techno steckt? Wie können diese bodenständigen Typen aus dem Chiemgau mit ein paar Blasinstrumenten vom Flohmarkt, Bass und Schlagzeug derart rotzig die Musikgeschichte fleddern und dabei auf Techno, Dub und sogar Drum ’n‘ Bass energieleveltechnisch noch ungefähr eine Schrillion Schippen draufpacken?
Das Krasseste: Ich spreche hier „nur“ von der Wirkung, die das Studioalbum auf mich hatte.
Live ist das Ganze noch mal einen Zacken krasser. Ich behaupte, eine bessere Liveband ist schwer zu finden. Eine die mehr Energie ins Publikum bläst, ist für mich nicht mal denkbar.
Mittlerweile habe ich Moop Mama, Meute, und viele andere Bläsercombos unterschiedlichster musikalischer Ausrichtung kennen und lieben gelernt. Ich bin zwar immer noch jedes Mal von den Socken, aber nicht mehr so überrascht von der Wucht, die Blechbläser entwickeln können.
„Habe die Ehre“ bleibt für mich diesbezüglich aber ein Meilenstein, die Initialzündung und auch das Beste aller LaBrassBanda-Alben. Bäm Oida!
Stevie Wonder – Original Musiquarium
Wonderful
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Ich kann mich noch sehr genau erinnern, wie das war, als ich das erste Mal „Superstition“ von Stevie Wonder hörte. Es war irgendwann im letzten Drittel der 80er im „Kaffee Giesing“, der kleinen Live-Musik-Bühne in Mjunik, die damals Konstantin Wecker gehörte. Eine Freundin schleppte mich auf das Konzert der stadtbekannten Funk- & Soulband „Zauberberg“. Als die Band ein Medley (oder sagte man damals noch „Potpurri“ oder schon „Megamix“?) von Stevie Wonder, einem Künstler, den sie rückhaltlos bewundern würden, ansagten, konnte ich nicht glauben, was meine Ohren eben gehört hatten. Stevie Wonder? SRSLY? Für mich war Stevie Wonder zu dieser Zeit ein komischer alter Mann, dessen unsägliches „I Just Called To Say I Love You“ mir gehörig auf die Nüsse gegangen war, weil es von sämtlichen Radiosendern gefühlt jahrelang rauf- und runtergespielt wurde.
Ein paar Minuten später war ich zum zweiten Mal soweit, dass ich nicht glauben konnte, was ich hörte. Die (nebenbei bemerkt, exzellente) Band begann das Medley mit „Superstition“ und machte mit „You are the Sunshine Of My Live“, „I Wish“, und „Sir Duke“ auf demselben Level weiter. Der Sound blies mich förmlich an die Wand. Am nächsten Tag rannte ich in den erstbesten Plattenladen, kaufte mir die Best of mit dem wunderbaren Titel „Stevie Wonders Original Musiquarium“ auf Platte und CD und war fürderhin der glühende Verehrer von Stevies überirdischem Talent, der ich bis zu heutigen Tag auch geblieben bin. Natürlich habe ich mir in der Zwischenzeit fast alle Alben von Stevie Wonder besorgt und natürlich höre ich sie mittlerweile lieber als die olle Best of, aber hey, das erste Mal vergisst man nie und deswegen kam das Musiquarium in diese Liste und keines der Alben aus Stevies klassischer Phase.
Und auch heute noch gibt es kaum ein Set von mir, das ohne einen Track von ihm auskommt. Und ja, dann werde ich zum uncoolsten DJ auf der Welt und lasse die Tränen laufen. Glaubt ihr nicht? Kommt vorbei und ihr werdet es sehen.
Stevie Wonder veränderte buchstäblich mein Leben, denn er brachte mir den Funk und der Funk ist bis heute nicht mehr von meiner Seite gewichen.
Café del Mar Volumen IV
Chill mal deine B(l)ase
https://www.youtube.com/watch?v=DuJ3jMT5n3I
Seit ich denken kann, ist „sortenreines“, auf ein Genre begrenztes Auflegen ein absolutes No-go für mich. Einfach nur stinklangweilig. Ich hatte das Glück, mehrere von DJ „erfundene“ „Genres“ mitzuerleben. Warum ich „Genre“ in Anführungszeichen schreibe? Weil diese „Genres“ von DJs buchstäblich ermixt wurden. Ein paar dieser Plattenleger zwirbelten verschiedenste Stile über die Jahre hinweg so konsistent ineinander, dass ihr ureigener Genremix ganze Genres begründen konnte.
Los ging die Vorliebe für diesen Ansatz beim Auflegen bei mir mit Cosmic, das in der gleichnamigen Diskothek am Gardasee von Daniele Baldelli unter Zuhilfenahme von Funk, Disco, Afro, New Age und deutscher Elektronik ermixt wurde. Aber das ist eine ganz andere Geschichte und die soll ein anderes Mal erzählt werden.
Das nächste Beispiel war Acid Jazz. Lange bevor die Kommerzialisierung durch eine Schwemme an Rap-Platten mit Jazz-Samples erledigt wurde, kamen DJs wie Eddie Piller oder Gilles Petersen und später auch die Clique rund um Compost Records auf die Idee, alten Soul und Funk, Brazil mit tanzbarem Jazz und Hip Hop zu mischen. Fand ich damals enorm spannend. Und letztendlich entstand das, was wir heute „House“ nennen, auf genau die gleiche Art und Weise. Nur mit anderen Platten.
Für die Schwemme an Chillout Ende der Neunziger gilt exakt dasselbe: Bevor Massen an entsprechenden Compilations auf den Markt geworfen wurden, gab es José Padilla, den Resident im Café del Mar auf Ibiza, der sich den Sonnenuntergangs-Soundtrack, der erst zu seinem und später zum Markenzeichen der ganzen Insel wurde, mühsam zusammensuchen musste. (Oder durfte, denn er schuf damit etwas ganz Besonderes.)
Dub-Versionen von Popsongs, ambiente B-Seiten von Technoscheiben, Fahrstuhljazz, hingehauchter Brazil, chilliger Drum ’n‘ Bass, erlaubt war, was einem akustisch einen „Sonnenuntergang ans Knie klebte“, wie es ein Kollege und Zyniker vor dem Herrn mal formulierte. Was mir immer besonders gut gefallen hat: Bei aller Chillung waren da immer auch tanzbare Stücke dabei wie zum Beispiel „Out of Time“ von Levitation. Solange es obenrum schön klebrig blieb, durfte es untenrum durchaus auch mal etwas mehr wummern. Deep House hätte ebenfalls auf diese Beschreibung gepasst. Was für ein Zufall.
Ab der vierten Ausgabe der Compilation-Reihe war ich dabei und wie!
Noch heute kriege ich bei fast jedem Track Gänsehaut, obwohl das Thema „Ibizenkischer Chillout“ heute so ausgelutscht ist, dass es weh tut.
Aber die Vierer geht auch heute noch. Und das, obwohl ich nie auf Ibiza war.
Cymande – Cymande
Tropical Soulclash
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Cymandes Debüt ist einerseits eines der ältesten Alben in dieser Liste, aber auf der anderen Seite aber erst seit ein paar Jahren in meiner Sammlung.
So gesehen ist es das Album, das am wenigsten Zeit hatte, in mein Herz vorzudringen. Aber es verfügt über ein paar fiese Widerhaken. Ich weiß nicht mehr genau, wie genau es in mein Bewusstsein rückte, aber irgendwie läuft es darauf hinaus, dass DJ MQ aka Ralf Theil, der auch lange Zeit für AMAZONA.de schrieb, es wohl in den sozialen Medien als Musiktipp teilte. Und da Ralf einer der großartigsten DJs ist, mit denen ich je zusammen spielen durfte, habe ich diesen Tipp damals sicherlich gegengecheckt, festgestellt, dass ich „Bra“ von irgendwelchen Funkmixen kannte und mich noch viel mehr über „The Message“ gefreut, das mir damals nur als Sample aus MC Solaars „Bouge De La“ ein Begriff war.
Soweit, so normal. Auf ähnliche Art und Weise ist mir jede Menge alte Musik über den Weg gelaufen, die mir später wichtig wurde. Aber kein anderes Album schaffte es, zum ganz persönlichen Sonntagsfrühstück-Soundtrack zu werden. Seit vielen Jahren läuft es regelmäßig, wenn am letzten Tag der Woche das längste Frühstück auf dem Plan steht. Oder anders gesagt: Cymandes erster Longplayer ist zum Soundtrack meiner Beziehung geworden. Warum das so ist, ist mittlerweile auch egal, aber der Percussion-lastige, warme und eklektische Sound, der völlig einzigartig irgendwo zwischen Karibik und Detroit herumgeistert, passt einfach perfekt zu dem, was für mich der perfekte Wochenausklang ist. Kaffee, viel verschiedene Leckereien, meine Frau neben mir, Cymande im Ohr. Mehr Liebe geht einfach nicht.
Apropos Liebe: Cymande sind in ihrer langen Karriere genau ein Mal in Deutschland aufgetreten. Und zwar beim XJazz-Festival 2016 im Berliner Club Bi Nuu. Nie habe ich mehr Energie aus dem Publikum in Richtung Musiker gespürt. So viel Dankbarkeit und Demut. Die gesamte Berliner Hip-Hop-Szene war da. Jeder war froh, dass die alten Männer sich die Ehre gaben. Und die alten Männer wirkten ernsthaft überrascht darüber, wie viel Liebe ihnen entgegenschlug. Es war einfach nur magisch.
Faith No More – The Real Thing
Der wahre Jakob
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Es war klar, dass in dieser Liste unbedingt auch Gitarrenmusik vorkommen musste. Bei aller Liebe, aber wenn ich zu lange am Stück elektronische Musik höre, wächst in mir das Bedürfnis nach Ausgleich in Form von verzerrten Gitarren. Ist bei mir schon immer so, wird sich auch nicht mehr ändern. Dazu kommt, dass ich musikalisch sehr stark Ende der 80er bzw. Anfang der 90er sozialisiert wurde, also genau zu dem Zeitpunkt, als die Rocker sich die Haare abschnitten und funky wurden. Na gut, Pearl Jam hatten mit Funk nicht so viel am Hut, aber deswegen habe ich ja auch mit Pearl Jam nicht so viel am Hut.
Wo waren wir? Ach ja, Faith No More. Was soll man dazu schon großartig sagen? Die Band nicht von dieser Welt, Mike Patton ein Wahnsinnssänger und Mensch. Der Sound funky und so ganz anders als jede andere Rockband, die ich bis dato gehört hatte.
Definitiv werde ich nie im Leben vergessen, wie ich auf der Tanzfläche der Münchner Diskothek „Liberty“ stand und zum ersten Mal „Surprise, You’re Dead“ hörte. Man muss dazu sagen, dass davor wahrscheinlich so Sachen wie die Stones, AC/DC oder Melissa Etheridge liefen. Entsprechend traf mich der Sound wie ein Blitzschlag aus einer weit entfernten Galaxie. Kurze Zeit später lief „Epic“ überall rauf und runter und meine kleine Welt der Gitarrenmusik war ein gutes Stückchen besser geworden. Funkiger, keyboardlastiger, schräger, härter.
Hier mal ein kleiner Einschub, quasi Transparenzoffensive: Eine der Sachen, die ich am Schreiben so mag, ist die Recherche bzw. deren Ergebnisse. Ich könnte jetzt natürlich den Oberchecker geben und euch das Folgende präsentieren, als hätte ich es schon immer gewusst, aber hey, das mache ich oft genug. Heute und an dieser Stelle will ich ehrlich sein: Ohne die Arbeit an dieser Liste hätte ich den Wikipedia-Artikel zum Album eher nicht gelesen und wüsste immer noch nicht, dass Anthony Kiedies Mike Patton damals vorwarf, seinen Stil zu kopieren. Vor allem aber hätte ich diesen Absatz nicht gelesen, der einfach perfekt ist, um Mike Pattons und damit Faith No More schwarzen Humor zu beschreiben:
„Mike Patton finally addressed the allegations from Kiedis in 1990, commenting that „It just kind of came out of the blue. It doesn’t bother me a bit. I got a real big kick out of it to tell you the truth. I mean, if he’s gonna talk about me in interviews, that’s fine – it’s free press! Either he’s feeling inadequate or old or I don’t know, but I have no reason to talk shit about him. (…) Later in 2001, Patton also theorized that „I think Anthony, deep down, feels like I’m a better dancer than he is. I think I shake my booty just a little bit fresher than he does. And if he would stop doing drugs I think he could outdance me. Maybe one day we’ll have a breakoff, just breakdance.“
Und das, liebe Kinder, wäre schon genug mehr als Grund, Faith No More zu lieben.
Mother’s Finest – Mother’s Finest
N-Wort-Personen can’t sing Rock’n Roll
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OK, der Bogen von Faith No More zur nächsten Band ist denkbar kurz, denn all die funky Crossover-Helden, die Anfang der Neunziger des letzten Jahrhunderts die Charts enterten, hätte es ohne Mother’s Finest wahrscheinlich nie gegeben. Ihnen gebührt meines Wissens die Ehre, als erste Funk und Hardrock zu einem unfassbar explosiven Cocktail vermixt zu haben. Und ganz ehrlich Leute, niemand hat diesen Crossover jemals wieder besser hinbekommen, als die Truppe um Joyce „Baby Jean“ Kennedy in den seligen Siebzigern und Achtzigern. Ich bin wirklich sehr froh, dass ich damals Freunde hatte, die älter waren als ich, mich bei meinen Streifzügen durch die Musikgeschichte unter ihre Fittiche nahmen und ihr Wissen mit mir teilten. Denn so etwas wie das Internet, YouTube oder Discogs gab es einfach noch nicht.
Ihre Popularität in Europa und besonders in Deutschland lässt sich übrigens auf exakt einen Auftritt zurückführen. 1978 holte sie der WDR für einen Auftritt beim Rockpalast in die Essener Grugahalle, von wo aus sie Deutschland im Sturm nahmen. Ja ja, ich weiß, das ist eine ehr militärische Ausdrucksweise, aber vielleicht fällt euch ja noch eine andere Bedeutung von „nehmen“ ein, dann könnt ihr euch ein wenig vorstellen, was Mother’s Finest mit mir angestellt haben.
Wisst ihr noch, die Tränen, die bei Stevie Wonder oder Keziah Jones liefen? Nun, die wären jetzt weniger peinlich, als der grauhaarige Mann, der im ICE sitzt, wie wild in seine Tastatur hackt und dabei headbangt. Will doch keiner sehen so was!
Four Tet – There‘s love in love you
Warme Stolperliebe
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Puh, jetzt wird’s wieder gefühlsduselig, sorry not sorry, Leute.
Keine Ahnung mehr, wie Kieran Hebdens Musik den Weg in mein Herz (und meine Tränendrüsen, ja, ja) fand. Ich bekomme es nicht mehr rekonstruiert, aber ich tippe mal auf die damals sehr aktive deutsche Blogosphäre. Ich schrieb schon regelmäßig für die Blogrebellen und kann mir sehr gut vorstellen, dass es Ronny vom heute noch aktiven „Kraftfuttermischwerk“ war, der mich darauf brachte.
Four Tets punkige DIY-Attitude mit der er die wärmste elektronische Musik erschafft, die mir bis dato untergekommen ist, passt zu Ronny Kraak vom Kfmw wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge. Er selbst hätte an der Stelle wahrscheinlich „Arsch auf Eimer“ bevorzugt. Wie schon bei Keziah Jones gab es in Kieran Hebdens Karriere nur ein kurzes Zeitfenster, während dessen seine Musik passgenau in mein Rückenmark einrasten konnte und das war das „There’s Love In You“-Album. Vorher war mir seine Musik zu indie und zu verstolpert, um mich richtig zu packen, später schaffte er die Emotionalität nicht mehr, die für mich seinen Sound so liebenswert macht. Eine lange Reihe seiner Veröffentlichungen auf meiner Festplatte, zu denen ich kaum eine Verbindung habe, gibt darüber beredt Zeugnis. Obwohl, „sie schweigt sehr laut dazu“, wäre der präzisere Ausdruck.
Für ein paar Monaten in meinem Leben gab es kaum andere Musik für mich als dieses Album. Es ist in seiner sampleseligen Kleinteiligkeit das perfekte Kopfkino. Housig genug, um – zumindet in Teilen – auch auf dem Floor zu funktionieren, und dank der vielen Vocalschnipsel und Kieran Hebdens sehr eigener Art, Samples zu bearbeiten, so organisch, dass es auch im Indiekosmos bestehen konnte. Ich glaube nicht daran, dass es einen Masterplan gab, aber wenn Kieran Hebden den festen Vorsatz gehabt hätte, sein eigenes Indie-Ego davon zu überzeugen, dass die Zukunft auf den Dancefloors dieser Welt liegt, hätte das perfekte Album, um dieses Ziel zu erreichen, genau so klingen müssen wie „There’s Love In You“.
Prince – Sign o‘ The Times
Außerhalb jedweder Konkurrenz
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Zum Abschluss muss es noch mal ein besonders besonderes Album sein.
Eines, das nicht nur in meinen persönlichen Best-of-Listen auftaucht.
Da bietet sich für mich Prince Roger Nelsons epochales Doppelalbum von 1987 einfach an. Tatsächlich bin ich mir ziemlich sicher, dass ich kein Album öfter gehört habe, obwohl es 87 einige Kandidaten dafür gegeben hätte. Depeche Modes „Music for the Masses“ (meine erste CD), „Kiss me Kiss me Kiss me“ von The Cure und natürlich „Introducing the Hardline according to Terence Trent D’Arby“. Was für ein Jahr! Alle diese Werke rotierten monatelang abwechselnd auf dem Weg zur Schule in meinem Walkman (falls jemand fragt: Sony DD2, was sonst), aber keines davon habe ich noch Jahre später immer wieder herausgezogen. Erst 2017 habe ich es mir auf CD geholt, weil das Vinyl echt durch ist.
Fun Fact: Es ist noch nicht lange her, dass ich kapiert habe, dass das Schlagzeug auf dem Album eine von his Purpleness unverwechselbar programmierte LinnDrum war. Und auch sonst ist mir damals viel von dem entgangen, was auf Sign o‘ The Times musikalisch abgeht. Ein Album für die Insel. Durch und durch. Reicht euch nicht? Werft Google an und sucht nach einer der vielen Rezensionen. Sign o‘ the Times hat bei so vielen Menschen lebensverändernde Wirkung gehabt, da findet sich ein Text für jeden von euch. Ich kann da nicht soviel zu sagen. Es ist halt Prince. Uns normalen Menschlein bleibt nur, tiefe Dankbarkeit zu empfinden, dass wir seine Musik hören dürfen und am besten die Klappe zu halten und zu tanzen. Oder zu ficken. Das wäre angemessen.
Es liest sich bisweilen wirklich herrlich, wie Patton und die Jungs von Bungle es schafften, den Peppers und Kieldis so auf die Nerven zu gehen. Sympathischer Irrer. Bin mir auch nach wie vor nicht sicher, ob seine Story über Elton John stimmt:
https://www.youtube.com/watch?v=p1JSIjF96aI
Schöne, wahre einleitende Worte über das Djing in Discos/Clubs. Die Jocks die unfallfrei ne ganze Nacht bedienen können werden immer seltener, schwer das nicht wertend zu meinen. Vor allem im elektronischen Bereich.
Und, das 500er…was hab ich die 500/600er abgrundtief gehasst🥰
Hut ab und Respekt.
Auch von mir: Danke für die schönen einleitenden Worte. Nicht, weil ich das als Nicht-DJ irgendwie nachempfinden könnte, nächtelang in der Disse zu stehen, sondern weil Musik so unglaublich viel mehr sein kann, als nur »Bamm-Tss Bamm-Tss Bamm-Tss« (was unbenommen auch mal geil ist).
Danke auch für die Musik-Auswahl.
Steve Reich: Hat auch bei mir einen festen Platz in meiner Musiklandschaft, und zwar genau mit »Music for 18 Musicians«. Ebenso übrigens wie Philipp Glass, den ich – kein Witz – im Alter von ca. 14 mit dem Opus »Einstein on the Beach« kennen und lieben gelernt habe (wer mal wirklich was abgefahrenes Handgespieltes hören will, dem empfehle ich genau diese Oper, und zwar möglichst die alte Aufnahme). Ebenso bin ich der Meinung, dass man als Elektronik-Musiker – und demnach dem Experimentellen durchaus zugewandt – sich »4’33“« von John Cage mal konzentriert geben … und vor allem überdenken sollte, was das eigentlich bedeutet.
La Brass Banda: Hahaha … sind die geil. Das ist nicht wirklich meine Musik, aber ich zücke den Hut vor der Spielfertigkeit … was dann ja eben doch wieder hörenswert ist. Und große Hochachtung dafür, dass die ihre Musik in unserer Zeit auch noch veröffentlichen dürfen (und als Wahl-Bayer muss man die sowieso kennen).
Wie ein ehemaliger guter Kollege mal sagte: »Musik muss immer auch ein bischen weh tun.« Amen!
Schöne Liste,
Steve Reich, Keziah Jones, Prince. Schöne Liste. Einfach Schade, was mit dem Erbe von Prince geschieht, Das genaue Gegenteil, dessen was er bis zu letzt gemacht hat. Eine halbfertige Platte auf den Markt bringen, die einfach nicht die musikalsicheTiefe hat, welche man von seinen Werken bis zuletzt gewohnt war.
Schön mal sowas wie Cymande hier zu finden. Und da gibt es noch tonnenweise mehr an „alter“ Musik, dieser Richtung, die einem den Sonntagmorgen versüssen könnte.
Keziah Jones – Blufunk is a Fact hat bei mir auch total eingeschlagen. Beim querhören im CD-Laden drüber gestolpert. Muss gleich mal wieder reinhören.
Bei Keziah Jones habe ich diese Erfahrung auch gemacht: Unglaublicher Gitarrist und phantastischer Sänger.
Hatte das Glück, ihn, ich glaube 4x, live zu sehen, unfassbar gut; tatsächlich gehört es zum Besten, was ich jemals live gesehen habe!!