MOTU MX4 v2.0
Wer sich mit der Evolutionsgeschichte der Synthesizer beschäftigt, wird feststellen, dass es – ähnlich wie im Bereich der Lebewesen – erfolgreiche und weniger erfolgreiche Arten gibt. So manche Spezies ist völlig verschwunden – z.B. die Phase-Distortion-Synthese PD (von Casio) oder auch die Vektorsynthese (der letzte Atemzug von Sequential Circuits). Auch andere haben ihren Entdeckern kein dauerhaftes Glück gebracht. Dies gilt leider auch für die Wavetable-Synthese. Ursprünglich von Wolfgang Palm entwickelt und von ihm unter dem Firmennamen PPG zur Marktreife geführt, konnte sich auch die Firma Waldorf, als „PPG-Nachfolgeorganisation“, leider nicht dauerhaft am Markt behaupten. Im Jahr 2004 verschwand mit Waldorf die letzte Hardware-Schmiede für Wavetable-Synthesizer. Doch wie bei den Lebewesen auch, verschwanden nur die Körper – im Wave 2.V-PlugIn lebt die Seele der PPG-Synthesizer weiter. Mit dem MX 4 (2.0) wird dieser Seele nun neues Leben eingehaucht. Die amerikanische Hard- und Softwareschmiede Mark of the Unicorn (MotU) – hauptsächlich bekannt für professionelle Audio-Hardware – nennt ihren ersten Softwaresynthesizer selbstbewusst MULTI-Synth und meint damit die Synergie von subtraktiver, FM- und eben Wavetable-Synthese.
Der Multi-Synth kommt im stabilen Pappschuber mittels einer CD ins Haus. Beim Auspacken findet der künftige Multi-Sythetiker leider nur ein englischsprachiges Handbuch, ein ebenfalls englischsprachiges kleines Manual für die Neuheiten der Version 2.0 und einen in der Form an einen Schlüssel erinnernden USB-Stick. Leider handelt es sich hierbei nicht um einen Speicherstick als Gratisbeigabe, sondern um den Kopierschutz-Dongle. Ich hatte gehofft die Dongle-Zeiten sind vorbei. Doch es war offensichtlich zu früh das „Buch der 1500 übelsten Flüche“ auf den Dachboden zu stellen. Wir werden es wieder brauchen, wenn wir den Dongle mal verlegt haben oder beim nächsten Laptop-Gig oder Studiotermin der Dongle 300 km weit entfernt zu Hause schlummert – wir aber den MX4-FX Sound fürs Song-Intro laden wollen.
Ganz Oben
Die Bedienoberfläche des MX 4 gibt sich futuristisch. Weit entfernt vom detail- verliebten Abbild eines historischen Vorbildes. Eine Software-Oberfläche auf der Höhe der Zeit. Insgesamt stehen 60 virtuelle Knöpfe und Slider bereit, um chirurgische Eingriffe in den Klangkörper vorzunehmen. Sieben Graphik-Displays dokumentieren die Resultate der Eingriffe und das so genannte Statusdisplay zeigt beim Überfahren der einzelnen Knöpfe/Slider mit der Maus, jeweils die aktuelle Position in %-Werten oder auch Zeitparametern (z.B. Millisekunden). Daten eventuell zugewiesener Modulationsquellen werden ebenfalls angezeigt.
Das Drei-Oszillatorenherz des Multi-Synth
Drei Oszillatoren bilden das Herz der MX 4 Klangerzeugung. Natürlich steht hier eine vollständige Auswahl klassischer Wellenformen bereit (Sinus, Sägezahn, Rechteck (die letztgenannten jeweils als Standard- und in „digitaler“ = CPU-schonender Variante), plus weißes und rosa Rauschen. Hinzu kommt eine umfangreiche Auswahl von Wavetablen. Insgesamt 98 verschiedene Spektren stehen hier zur Verfügung. Diese jeweils für alle drei Oszillatoren wohlgemerkt ! Wie es Wesen der Wavetable-Synthese ist, enthält jeder der 98 Wavetable wiederum verschiedene Wellenformen, die das Klangspektrum des einzelnen Wavetable beschreiben. Rekordhalter hier ist der Wavetable „Bosch“ mit 256 verschiedenen Wellenformen. Diese Zahlen vermitteln einen Eindruck über die unüberschaubare Vielzahl von Spektren die der MX 4 über seine Wavetable bereitstellt. Beim Anblick dieser Zahl hat sich MotU gedacht: Genug ist genug. So ist ein Import selbst erstellter oder klassischer Wavetable (z.B. von MicroWave- oder VS-Synthesizern) nicht möglich. Schade eigentlich.
Zur Manipulation und weiteren Feinjustierung der Oszillator-Signale bietet der MX4 folgende Parameter: Pitch, Pan, Lautstärke (Level) und Symmetry für die Oszillatoren 1-3. Hinter Symmetry verbirgt sich die klassische Pulsweiten-Modulation. Oszillator Nummer 3 dient als Quelle zur Frequenzmodulation seiner Kollegen 1 und 2. Ziel der FM ist entweder der Oszillator-Pitch von 1 und 2 und/oder die Filterfrequenz der Filter 1 und/ oder 2. Zur Regelung der Intensität steht jeweils ein FM-Slider bereit.
Wurde über das Oszillator-Auswahlmenü ein Wavetable ausgewählt, kommen auch die drei „Wavetable Index“-Slider ins Spiel. Ihre Position bestimmt, welche Wellenform innerhalb eines Wavetables zu hören sein soll. Erst als Modulationsziel entfaltet der Wavetable Index seine große Bedeutung als klangformendes Element.
BlueWavePad.mp3 klassischer PPG – Wavetablesound
MotUTable.mp3 Wavetable-Pad mit MX4-Chrakteristik
Filterlandschaften
Bevor wir uns die Modulationsabteilung auf die Zielscheibe heften, ein näherer Blick auf die filternde Abteilung des MX 4. Auch hier sagte sich MotU: Besser klotzen als kleckern. Es stehen zwei Filter mit jeweils 6dB, 12dB, 18dB und 24 dB Flankensteilheit bereit, um in das Klanggeschehen einzugreifen. Die Filtercharakteristik kann aus den Varianten Low-Pass, Band-Pass, High-Pass oder Notch-Filter gewählt werden. Darüber hinaus können die beiden Filter noch mit einer Distortioneinheit verschaltet werden. MotU nennt dies Filter-Topology. Hinter dem Topology-Button verbergen sich 11 Blockschaltbilder, die den jeweiligen Signalfluss zwischen Filtern 1 und 2 und der Distortioneinheit veranschaulichen. Die Distortionintensität kann über das entsprechend gekennzeichnet Wheel justiert werden. Klanglich handelt es sich bei diesem Distortioneffekt eher um einen Saturationeffekt mit seidigen Verzerrungen. Neben dem Distortion-Rad findet der User einen weiteren Knopf, mit dem der Signalmix zwischen Filter 1 und 2 stufenlos reguliert werden kann.
Modulationen ² x MX4 = MotU
Beim näheren Blick auf die Modulationsmöglichkeiten des MX4 könnte man auf die Idee kommen, das der MotU-Synthesizer seinen Namen diesem Bereich seiner Klangerzeugung verdankt: M_odulationen X_fach – man weiß es nicht. Zunächst die nackten Zahlen: vier DADSHR – Hüllkurven, sechs LFOs, Modulationsmatrix mit 16 Sources und Shaperfunktion. Da steckt schon viel Musik und auch viel Ungewohntes drin. Aber der Reihe nach.
Jede der vier Hüllkurven präsentiert sich als sechs-stufiger Modulationsgenerator. Zu den klassischen Parametern Attack, Decay, Sustain, Release, wurde ein Delay-Parameter noch vor die Attack-Phase gesetzt, um den Hüllkurven-Startpunkt auch zeitlich justabel zu machen. Ebenfalls zusätzlich wurde der Parameter Hold eingebaut. Dieser erlaubt es, den Endpunkt des Sustain-Phase (bzw. Startpunkt der Release-Phase) unabhängig vom Loslassen der Taste (Note-Off) zu fixieren – dieser wurde von MotU als vertikaler Strich im Verlaufsfeld des Signals visualisiert. So entsteht eine Graphik, die den Modulationsprozesses der Hüllkurven hervorragend visualisiert.
Die LFO-Abteilung ist gleichzeitig auch der optische Blickfang des MX 4 – Oberfläche. Die im „Auge“ von MX 4 gezeigte Wellenform entspricht der, des aktuell angewählten LFOs. Rund um dieses Auge findet man die weiteren LFO-Parameter. Ein Untermenü stellt die Wellenformen Sinus, Sägezahn, Rechteck, Sample&Hold, Sample&Ramp sowie Random Walk (freier Verlauf) zur Auswahl. Die so gewählte Basiswelle wird dann über kreisrund angeordnete Parameter-Slider weiter justiert. Neben Rate und Phase, die auf Wunsch beide (!) per SYNC–Schalter zum Host-Tempo synchronisiert werden, kann dem LFO mit drei weiteren Parametern die Welle frisiert werden. Ein Schmankerl ist der POLY-Schalter: Ist er aktiv erhält jede gespielte Stimme des Sounds eine eigene LFO-Modulation. Habe ich so vorher noch nicht gesehen!
Nach so vielen Modulationsquellen bleibt die Frage, wohin nun mit diesem geballten Modulations-Output. Welche Parameter der MX4 Klangerzeugung lassen sich modulieren. Die Frage ist schnell beantwortet: Alle! Und das ist wörtlich zu nehmen. Jeder Parameter der Oszillatoren, der Filter, der Envelopes, der Effekte, ja der LFOs selbst, ist als Ziel von Modulationen anwählbar. Aber es kommt noch besser: Jeder LFO kann gleichzeitig mehrere Zielparameter steuern. Da höre ich schon einige die Backen pusten und sich fragen: Wie soll das bedienbar sein? An dieser Stelle kommt die ausgefuchste Modulationsmatrix des MX 4 ins Spiel.
Die Modulationsmatrix befindet sich auf der rechten Seite der MX 4 – Oberfläche. Zwei Spalten mit jeweils 16 Feldern = 16 Modulationsquellen mit entsprechender Ziel-Zuordnung – fertig – nächster Punkt. Doch hier wird man von MotU auf dem falschen Fuß erwischt. In der Tat findet man in der linken Spalte die 16 verfügbaren Modulationsquellen. Doch die Zuordnung der Ziele erfolgt über eine direkte Zuweisung des Parameters über die MX4-Oberfläche – wie bitte? Der Arbeitsablauf wie folgt: Grünen Punkt vor der Modulationsquelle aktivieren und dann mit gedrückter ALT-Taste den Regler des Modulationszieles bewegen. Dann erscheinen auf dem Regler zwei Pfeile, mit deren Hilfe der Grad der Modulationsauslenkung justiert werden kann. So, und jetzt kommt`s: Diese Zuweisung kann mehrfach vorgenommen werden – mit anderen Worten, jede Quelle kann mehrere Parameter gleichzeitig steuern. Keine Ausreden mehr für langweilige Flächensounds oder monotone Sequenzen.
Bei den bereits erwähnten 16 Modulen in der rechten Spalte der Matrix, handelt es sich um die so genannte „Shaper“. Die Shaper sind den Modulationsquellen nachgestellt. Es erfolgt hier eine Multiplikation des Modulator-Outputs mit dem Output des Shapersignals. Technisch muss man sich einen Shaper als einen hinter den Ausgang einer Modulationsquelle geschalteten VCA vorstellen, der den Modulationsoutput in seiner Intensität variiert und erst dann an das Modulationsziel weitergibt. Eine Funktion wie sie z.B. auch der Minimoog Voyager anbietet. Nimmt man z.B. das gute alte Modulationwheel zur Steuerung der LFO-Intensität (Vibratoeffekt) fungiert das Modulationsrad wie ein Shaper.
Unterhalb der Modulationsmatrix befindet sich ein bi-direktionales Modulation-Meter, das die Aktivität der Summe des Modulationsoutputs visualisiert. Offengesagt keine wirkliche Offenbarung – eher ein nice-to-have-Feature. Schöner wäre es, wenn das „Auge“ auch die Wirkung der Shaper auf die Modulationsquellen visualisieren würde.
„Mods“ den Sound auf
Ein Klick auf den MODS – Button öffnet ein Fenster mit bei der Version 2.0 hinzugekommenen Optionen. Hier findet man ein sogenanntes Pattern Gate mit 16 einzeln schaltbaren Steps, zur Erstellung der immer noch allseits beliebten Gater-Effekte. Hier in einer Ausführung mit zusätzlich editierbarer Hüllkurve der Pulswelle.
Ebenfalls 16 Steps bietet der darunter platzierte Arpeggiator. Pattern Gate und Arpeggiator bearbeiten jeweils den gesamten Sound und sind selbstverständlich syncbar. Die rechte Seite des MODS-Fensters beheimatet insgesamt sieben weitere Shaper-Module. Von oben nach unten sind dies:
Trigger Sequencer: Laut Handbuch soll dieses Modul eine Step-gesteuerte Triggerung der Envelopes ermöglichen. In der getesteten Version wurde es allerdings nicht im Auswahlmenü der Shaper angezeigt.
Quantizer : Ein Shaper der Intervall-genaue Pitch-Modulationen erlaubt.
Sample and Hold: Eine altbekannte Modulationsfunktion, die hier auch als Shaper bereit steht.
Envelope Follower: Hinter dem Envelope Follower verbirgt sich die Fuktionalität eines Vocoders. Als Modulator nutzt dieses Modul ein am Audioeingang des MX 4 anliegendes Audiosignal. Carrier ist der gewählte Sound der MX 4 Klangerzeugung. Unter den gewählten Test-Bedingungen – MX 4 als MIDI-Instrument unter LIVE 4.0 – ließ sich diese Funktion leider nicht testen.
Lag Processor: Dieser Shaper zielt auf die Attack und Release-Phase einer Modulation. So können – in einer Bandbreite von 0,1 – 1,0 Sekunden – z. B. Aftertouch – Modulationen „weich“ ausgeblendet werden.
Pattern Sequenzer: Wie auch der o.g. Envelope Follower steht der Pattern Sequenzer sowohl als direkte Modulationsquelle als auch als Shaper zur Verfügung. In einer Bandbreite von -60 bis + 60 lassen sich – verteilt auf 16 Steps – Modulationswerte schrittweise justieren.
Auch auf der MODS-Seite finden wir das MX4-Auge. Hier zeigt es den sogenannten Invert&Transform – Shaper. Mit Hilfe dieses Shapers, kann der Verlauf einer Modulation in seiner Linearität verändert oder gar invertiert, also umgekehrt, werden. Dies ist vor allem bei der Steuerung über Hardware MIDI-Controller eine interessante Option Echtzeit – Klangverläufe zu kreieren.
Laut Handbuch-Addon sollte die MODS – Seite (der Version 2.0) weitere Effekte anbieten. Leider standen die angekündigten Effekte Flanger, Phaser und Reverb in der hier getesteten Version nicht zur Verfügung.
Verwaltung und Zufall
Abschließend noch ein kurzer Blick auf die zwei verbliebenen Fenster des MX 4 :
Ein Klick auf FILE öffnet die Soundverwaltung des MX 4. Hier stehen diverse Kopier- Lösch- und Speicher-Funktionen für einzelne Programms und ganze Sound-Bänke zur Verfügung. Jeder Sound kann mit Kommentaren und Stichwörtern für die effektive Verwaltung der Sounddatenbank versehen werden. Witzigerweise konnte ich aber keine Suchfunktion nach diesen Kriterien entdecken. Zusätzlich findet man ein virtuelles Blechschild mit der Aufschrift: EXPANSION BAY. Offensichtlich plant MotU hier für zukünftige Sound-Erweiterung. Man sieht es gerne.
Hinter dem RANDOM-Button verbirgt sich – wer hätte das gedacht – ein Oberfläche zur Zufalls gesteuerten Generierung von Sound-Programmen. Hier werden 11 Soundparameter angeboten, die wahlweise beim Sound-Würfeln berücksichtigt bzw. ausgeschlossen werden können.
Praxis
Die vorliegende Version 2.0 wurde unter LIVE 4 getestet. Installation und Betrieb verliefen reibungslos und stabil. Allerdings zeigte sich MX4 auf dem 1GHz Powerbook sehr ressourcenhungrig. Bei 8-stimmigen Pad- oder FX- Sounds mit reichhaltigem Modulationsgewürz, wurde schon die 70% Marke der CPU-Belastung ins Visier genommen.
Mitbewerber
Wie zu Beginn des Testes erwähnt sind Software-Synthesizer mit Wavetable-Synthese selten anzutreffen. Der schon etwas in die Jahre gekommene Wave 2.V orientiert sich streng am historischen Original und entzieht sich damit einem Vergleich. Am ehesten sehe ich Emagic ES1 als direkten Konkurrenten zum MX 4 – wobei dieser LOGIC-Usern vorbehalten bleibt. Sicherlich muss auch Native Instruments ABSYNTH 3 genannt werden. Wobei dieser durch die Möglichkeit eigene Samples als Oszillator in die Klangerzeugung einzubinden, über die Variabilität des MX 4 hinausgeht, aber andererseits keine Wavetable-Synthese im eigentlichen Sinne bietet.
Fazit
Der MX 4 ist in erster Linie ein sehr guter Wavetable-Synthesizer. Natürlich lassen sich mit der vorhandenen Wellenform-Ausstattung und den äußerst umfangreichen Modulationsmöglichkeiten auch alle Facetten der klassischen subtraktiven Sounds gestalten. Doch gerade die gebotenen Modulationsmöglichkeiten bilden in Verbindung mit dem großen Wavetable-Angebot den eigentlichen Schatz der MX4-Klangerzeugung. Die FM-Möglichkeiten des MX4 sind bis dato noch Hausmannskost und gehen nicht über das hinaus, was viele andere Soft-Synths ebenfalls bieten. Gleiches gilt für das Effektangebot – das allerdings in einer endgültigen Version 2.0 auf eine solide Basisausstattung aufgebohrt wird. Aber auch hier ist noch großer Spielraum für weitere Updates.
PLUS
+++++ Sound – besonders Wavetable-Sounds
++++ Mehrfachmodulationen durch eine Source
+++ Bedienung und Graphik
++ Stabilität
MINUS
—- Preset-Verwaltung umfangreich aber etwas undurchsichtig
— noch nicht alle angekündigten Features der Version 2.0 implementiert
— z.Zt. nur für Mac OS X
— eher bescheidene FM-Möglichkeiten und Effektausstattung
— kein Wavetable-Import möglich
Preise
UVP: 349,00 Euro
Straßenpreis: 269,00 Euro