Workshop: Experimente mit Chromatik
Es ist ja etwas verwegen, eine so durchmischte Leserschaft, die vom Profi bis zum Einsteiger reicht, mit einem Text über Komposition amüsieren zu wollen. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass das Thema hier insgesamt so stiefmütterlich wegkommt zwischen all den Produktbesprechungen. Ich will es trotzdem versuchen. Das Ganze ist aber nur eine Spielerei, mehr gibt mein Halbwissen nicht her. Zur Visualisierung habe ich mich für die Piano Roll entschieden, wie man sie aus der DAW kennt, also gegen traditionelle Notation. Töne und Akkorde benenne ich international, nicht deutsch. Die Synthie-Klänge, die zu hören sein werden, sind meiner Herkunft geschuldet und sollten niemanden abschrecken. Mit einem spezifischen Genre hat das alles wenig zu tun. Dinge wie Tonleitern und Akkorde sind natürlich universell, ebenso die Ansätze, damit umzugehen.
Chromatische Komposition
Es geht also ums Chromatisieren. Was ist das? Die meisten Musikstücke beruhen auf einer Tonleiter, einer Abfolge von Ganzton- und Halbtonschritten. Interessant sind dabei die Ganztonschritte, denn dabei wird ja ein Ton übersprungen. Das ist eine Selbstbeschränkung: Der übersprungene Ton ist im Tonsystem verfügbar und kann von vielen Instrumenten auch hervorgebracht werden, aber man will ihn in diesem Stück nicht dabei haben. Dieses Ausschließen von Tönen ist nicht willkürlich, sondern dient der Harmonie – wie jeder weiß, der schon mal ohne Beachtung einer Tonleiter auf einem Instrument geklimpert hat. Zur Erinnerung ein „Hänschen klein“ im lockeren Freestyle statt der üblichen Dur-Tonleiter.
Man kann diese Variante als scheußlich und uninteressant abtun. Man kann aber auch finden, dass sie einen eigenen, gruseligen Reiz hat, der in vorsichtiger Dosierung ein Stück sehr wohl bereichern kann. Die normale, harmonische Variante und diese dissonante sind dann nicht die musikalisch „richtige“ und die musikalisch „falsche“, sondern sie stehen für das Yin und das Yang der Musik, zwei Extreme, zwischen denen es die richtige Balance zu finden gilt.
Praktisch bedeutet das: Man lässt ein Stück zwar prinzipiell auf einer Tonleiter beruhen, nimmt diese aber nicht absolut streng, sondern bindet auch Töne ein, die eigentlich ausgeschlossen sind – chromatische Töne. Die Idee ist uralt. Sie findet sich in der klassischen Musik genauso wie im Pop/Rock, hin und wieder. Ich greife hier für ein Beispiel etwas tiefer in die Mottenkiste, was Vorteile in Sachen Urheberrecht hat. Folgendes stammt aus einer Komposition von Edvard Grieg.
Werfen wir einen Blick auf die Noten.
Die Passage ist sechsstimmig. Die sechs Stimmen liegen in Schichten übereinander. Die höchste Stimme (welche die Melodie spielt) ist exemplarisch durch Linien verbunden. Das Stück ist in der Darstellung nach C-Dur transponiert, damit die Sache maximal übersichtlich wird: Die Töne, die nicht zur Tonleiter gehören, kommen auf den schwarzen Tasten zu liegen. Diese Töne sind zusätzlich rot hervorgehoben. Wie man sieht, enthalten alle Stimmen außer den beiden tiefsten chromatische Töne. Sehr viele sind es alles in allem nicht, aber sie genügen offenbar schon für deutliche Würze.
Eine Melodie
Wir wollen das nun auch versuchen. Dazu nehmen wir uns eine relativ nackte, frühe Entwicklungsstufe eines potenziellen Stücks her. Ausgangspunkt ist folgende Melodie:
Ein Schnipsel typische Popmusik, das um ein einfaches Akkordschema herum gestrickt ist. Der Zyklus besteht hier aus vier Akkorden und wird zweimal durchlaufen. In der Piano Roll sehen Melodie und Akkorde folgendermaßen aus:
Die Töne der Akkorde sind gelb gefärbt, die Grundtöne orange. Das Stück steht in a-Moll, d.h. die weißen Tasten gehören wieder zur Tonleiter und die schwarzen nicht. Letztere sind bisher nicht in Verwendung, weder in der Melodie noch in den Akkorden. Alles streng nach Tonleiter.
Es soll hier nicht darum gehen, ob es sinnvoll ist, diese Melodie noch einmal umzukrempeln und harmonische Brüche einzubauen. Natürlich führen größerer Aufwand und höhere Komplexität nicht zwangsläufig zu besserer Musik. Wenn man groß rauszukommen hofft, ist das Ganze vielleicht sowieso eine schlechte Idee – in den Charts dominiert die orthodoxe Tonleiter. Es soll nur darum gehen, was man anstellen könnte, wenn man wollte.
Zu den Varianten, die zu hören sein werden, sei angemerkt, dass man eventuell manche davon zweimal hören muss, um sie zu „verstehen“. Beim ersten Mal hat man noch die vorherige im Kopf und empfindet den Bruch mit der Erwartung leicht als schief.
Tonartwechsel
Die vielleicht üblichste Idee gehört eigentlich nicht zum Thema, ist aber entfernt verwandt. Man könnte einen Teil der Passage als Ganzes um ein paar Halbtöne verschieben. Ein Tonartwechsel. In der Regel macht man das nicht mitten im Thema, sondern wiederholt das Thema als Ganzes in einer transponierten Version. Aber ein Wechsel mittendrin geht natürlich auch. Hier würde sich dafür sich die Mitte anbieten, wo die erste Runde durch die Akkorde endet und die zweite beginnt. Man könnte die zweite Hälfte z.B. um zwei Halbtöne nach unten transponieren und so die Tonart in der Mitte von a-Moll nach g-Moll wechseln lassen. Dann müsste man noch den Übergang etwas anpassen und erhielte etwa Folgendes.
Auch auf diese Art kommen Töne ins Spiel, die nicht zur ursprünglichen Tonart gehören, hier konkret ein Bb in der Melodie und ein Eb im Bass. Prinzipiell eine interessante Variante. Die neuen Töne gehören aber zur neuen Tonart und sind deshalb nicht chromatisch.
Versuch 1: chromatische Töne
Im ersten Anlauf belassen wir die Akkorde, wie sie sind, und streuen ein paar Töne ein, die nicht zur Tonleiter gehören. Da solche Töne fast alle einen Halbton neben einem der drei Akkordtöne liegen, kommt es unausweichlich zu Halbtonreibungen. Das tut der Sache aber keinen Abbruch und ist bei Grieg nicht anders.
Das klingt doch schon mal interessant, ein bisschen wie der Entwurf zu einer James-Bond-Titelmusik.
Versuch 2: chromatischer Akkord
Jetzt greifen wir etwas tiefer ein und modifizieren das Akkordschema. Wir wollen einen Akkord einbauen, der einerseits mindestens einen leiterfremden Ton enthält, sich aber andererseits noch leidlich harmonisch einfügt. Bei so einem Vorhaben ist es prinzipiell eine gute Idee, den Quintenzirkel zu Rate zu ziehen. Wer damit nicht vertraut ist: Der Quintenzirkel enthält alle Dur- und Moll-Akkorde und ordnet sie so an, dass harmonisch verwandte Akkorde zusammen rücken.
Außen stehen die Dur-Akkorde, innen die Moll-Akkorde. Eine Dur- oder Moll-Tonart erlaubt aus den eigenen Tönen jeweils drei Dur- und Moll-Akkorde, die im Quintenzirkel einen kompakten Block bilden. In diesem Falle (a-Moll) gehören genau die oberen sechs Akkorde zur Tonart. Andere Akkorde fügen sich tendenziell umso harmonischer ein, je näher sie diesen stehen.
Versuchen wir es also mit einem D-Dur-Akkord, den wir in den Zyklus einschieben.
Die Melodie ist diesmal sehr zurückhaltend chromatisiert und verwendet nur den einen chromatischen Ton, der sowieso durch den D-Dur-Akkord hinein kommt, ein F#.
Versuch 3: chromatischer Ausflug
Um ein paar mehr chromatische Akkorde unterzubringen, müssen wir den Akkordzyklus verlängern. Statt zweimal durch eine 8-Takte-Schleife zu loopen, nehmen wir uns für die Entfaltung die kompletten 16 Takte. Die Akkordfolge beginnt und endet wie die alte, aber dazwischen entsteht viel Platz für Neues. So können wir uns auch noch ein Stückchen weiter in den Quintenzirkel vortasten.
Anstelle eines einzelnen Spannungsbogens, der vom Grundakkord a-Moll direkt wieder dorthin zurück führt, haben wir jetzt einen ersten Bogen zum f#-Moll-Akkord. Dort kehrt kurz Ruhe ein, harmonisch gesehen. Dann geht es in einem zweiten, etwas längeren Bogen zurück zum a-Moll.
Anschauungsmaterial
Zuletzt ein paar Beispiele dafür, wie sich Chromatik in zeitgenössischer Musik anhört.
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Suede „Trash“. Verschiedene chromatische Spielereien, die auffälligste darunter der fette chromatische Akkord im Refrain auf „me“.
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Elton John „Nikita“. Das Synthie-Solo macht einen üppigen chromatischen Ausflug in die Weiten des Quintenzirkels.
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Nancy Sinatra „You Only Live Twice“, Titelsong des gleichnamigen Bond-Films. Monströs chromatisierter Track von 007-Altmeister John Barry. Ein schönes Beispiel dafür, dass harmonisch ambitionierte Musik nicht zwangsläufig Kopfmusik ist, sondern auch berühren kann.
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Jamiroquai „Space Cowboy“. Im Jazz sieht man das mit den Tonleitern allgemein etwas lockerer. Irgendwo wird dann auch die Grenze zur freien Tonalität überschritten.
Großartiger Workshop!!! Echt klasse und nachvollziehbar aufbereitet. Vielen lieben Dank dafür!!!
Ich bin mir eher unsicher, ob die Erläuterung verstanden werden kann. Was sind „chromatische Töne“? Jeweils leiterfremde Töne? Chromatik ist kein Wort, um es in dem Zusammenhang von leiterefremd bzw. leiterkonform zu nutzen. Man kann es im Zusammenhang mit ‚Diatonik‘ thematisieren. Aber der Artikel demonstriert Ausflüge / Übergänge zu verschiedenen Tonarten, wie sie durchaus auch in der Popmusik zu finden sind.
Vielleicht hilft Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Chromatik
@MidiDino Ja, der Begriff „Chromatik“ war eventuell nicht optimal, weil mehrdeutig, und ich hätte besser vom „Chromatisieren“ gesprochen. Es geht hier nicht um die chromatische Tonleiter, sondern um Chromatik im diatonischen Kontext. Das sind tatsächlich leiterfremde Töne. In eben jenem Wikipedia-Artikel findet sich dazu folgendes Beispiel: „In einer C-Dur-Umgebung ist f diatonisch, weil es zur diatonischen C-Dur-Tonleiter gehört und fis chromatisch.“
@RE.S Leiterfremde Töne sind in der traditionellen, klassischen Musikliteratur (Noten) zuhauf zu finden, ob als musikalischer Übergang oder Ausdruck. Ich verstehe nicht, worum es dir geht. Langweilt dich Popmusik, mir zumimdest geht es so ;-) Ich habe sogar grundsätzlich den Ouintenzirkel hinter mir gelassen, arbeite skalenbasiert, nehme sogar an Wettbewerben teil:
https://hofa-contest.com/song/8584/
@MidiDino Ach, worum soll es mir groß gehen. Ein paar Anregungen geben zu einem interessanten Stilmittel. Falls hier meine (tatsächlich vorhandene) Meinung durchschimmert, der Großteil der Popmusik dürfte gern etwas komplexer sein auf der Ebene der Noten, statt vor allem auf fetten Sound und hübsche Gesichter zu setzen, ist das unbeabsichtigt.
Übrigens stammt die selbstbewusste Einordnung als Workshop nicht von mir, die hat Amazona dazu gebastelt. Dafür ist das Ganze in der Tat etwas dünn und enttäuschend. Vielleicht rührt daher die traurige Leserbewertung.
@MidiDino @ Mididino
Ich empfinde Orthographie und Grammatik auch als völlig überholt und unangemessen einschränkend. In meiner Lyrik bin ich da schon lange drüber hinweg. Mein neuestes Gedicht lautet:
Biglbwxcc..,))€&?;;
Cccxgjlkhxepst)9752)?
Jbbbuugg!!!!!
Uuzztbbbbildfffeeee
Sehr schöner Workshop. Hat Spaß gemacht zu lesen, die Aufbereitung mit Bild- und Tonmaterial ist vorbildlich. Gerne mehr davon 😬👍
Ich bin nur Laie was Musiktheorie betrifft, denke jedoch dass ein oder andere in diesem Artikel ließe sich evtl. anders/einfacher mit Blue Notes und Bitonalität erklären. Dafür muss man nicht mal unbedingt den Quintenzirkel bemühen. If it sounds good, it is good. :-)
Grundsätzlich interessantes Thema, mehr erläuterte Beispiele aus der Pop/Rock Historie hätten mir persönlich jedoch besser gefallen (evtl. was für einen zweiten Teil?), als Eigenkompositionen. Die Audiobeispiele klingen doch sehr arg nach 80er Jahre TV Serie. Das kann man gut finden, oder eben auch nicht. ;-)
Für den Aufwand und die Idee zu diesem Artikel gibt es zwei Sterne von mir.
@Rastkovic In gewisser Weise ist jedes Wissen durch Ausprobieren ersetzbar. Man braucht keine Statik, um eine Brücke zu bauen, die hält. Man baut einfach hundert Brücken und benutzt dann die eine, die nicht zusammenbricht. Wissen kann den Vorgang aber abkürzen, weil man schon vorher einschätzen kann, was besser und was schlechter funktionieren wird. Wie wichtig das ist, hängt natürlich davon ab, wie weit man kommen will. In Bezug auf Popmusik magst du Recht haben, da ist die Strecke meistens kurz.
Zum Thema 80er Jahre TV Serie: Ich ahne langsam, dass es ein Fehler von mir war, hier die erstbesten Presets des Synthesizers zu verwenden. Eigentlich sollte das egal sein, weil sich die Melodie natürlich auch mit ganz anderen Klängen spielen ließe. Aber beim Hörer kommt nun mal vor allem der Klang an, wie wir alle wissen. Daran wird gemessen, was Musik taugt. Hier ist der Klang wohl eher zur Abschreckung geeignet. Selbst Beethovens 5te würde mit diesen Sounds nach 80er Jahre Serien-Theme klingen. Vielleicht hätte ich einfach Klavierklänge verwenden sollen…
@Rastkovic Eins ist mir noch eingefallen, da du nach mehr Beispielen fragst. Ich habe im Text vergessen, etwas zu erwähnen. Die vier Beispiele, die ich dort bringe, sind Extremfälle. Viele Chromatisierungen in der Popmusik, wahrscheinlich die große Mehrheit, sind viel subtiler, oft mit durchschnittlichem Gehör kaum bewusst wahrnehmbar. Ich hatte letztes Jahr für ein Projekt die Akkordfolgen einiger Songs auf den einschlägigen Websites herausgesucht. (Selbst analysieren muss man ja heute bei bekannten Sachen kaum noch.) Dabei bin ich als lausiger Amateur des Öfteren über unerwartete chromatische Akkorde gestolpert. Eingängige Tracks wie „Fairytale Gone Bad“ von Sunrise Avenue, „Turn to Stone“ von ELO oder „Wanted Dead or Alive“ von Bon Jovi enthalten chromatische Akkorde. (Die übrigens deshalb eher cool als schief klingen, weil sie im Quintenzirkel direkt daneben liegen. Das Teil sollte man nicht verachten.) Selbst ABBA haben chromatisiert. Da einen historischen Überblick zu geben, wäre ein Projekt für jemanden mit sehr guten Ohren.
@RE.S Woran ich mich und evtl. auch andere etwas stoßen, ist der Begriff Chromatik in dem Zusammenhang. Es ist zwar aus dem Text heraus erkennbar worum es geht, aber bei chromatische Akkorde zucke ich innerlich erstmal kurz zusammen und muss an die Tone cluster von Henry Cowell denken. Das gleiche gilt für Chromatik in Verbindung mit Komposition, da kommen mir als erstes Werke von Arnold Schönberg in den Sinn, kurz bevor er in die Zwölftonmusik abgetaucht ist. :-)
Ich bin da ehr gewohnt das man von leiterfremde Töne spricht, oder aber von Modulation in eine andere Tonart (oder Rückungen, oder Umdeutungen).
Wie dem auch sei, danke nochmal für die Rückantwort. Das Thema ist für mich weiterhin sehr interessant und mein Appetit auf Akkordfolgen mit leiterfremde Töne ist geweckt.
@Rastkovic Du hast Recht. Ich bin bei der Bezeichnung der Akkorde auf eine falsche Übersetzung herein gefallen. Man spricht im Deutschen wohl vom alterierten Akkord, nicht vom chromatischen. Das ist ärgerlich. Als Anregungen, um hieraus irgendwann mal einen ernstzunehmenden Workshop zu machen, blieben also: 1. Begriffe verwenden, die üblich sind, 2. beim Demo-Material und seinen Varianten für einen anständigen, zeitgemäßen Klang sorgen, 3. ausführlicher auf Beispiele aus Pop und Rock eingehen.