Die Definition des Crunchs!
Vielleicht wäre vor knapp 6 Dekaden alles ganz anders gekommen, wenn Fender seiner Zeit einen funktionierenden Vertrieb für seine Produkte in Europa gehabt hätte. So aber sah sich Musikalienhändler, Elektroniker und Schlagzeuger Jim Marshall aufgrund der ständig nach mehr Leistung bettelnden britischen Musikszene genötigt, den Fender Bassman 1:1 zu kopieren, ihn aus Transportabilitätsgründen von den Lautsprechern getrennt in ein separates Gehäuse zu setzen und ihn bei Bedarf mit einer 8x 12“, später mit je 2 Stck. 4×1 2“ Cabinets auszurüsten. Ob er jemals im Hinterkopf hatte, was er mit dieser Kombination auf den Weg bringen würde? Um auch jüngeren Musikern die Möglichkeit der tonalen Anteilnahme zu ermöglichen, hat der britische Hersteller eine Reissue-Version des Modells 1987 am Start, seines Zeichens die 50 Watt Version des ewigen Ur-Plexis, Modell 1959, mit der Bezeichnung Marshall 1987X.
Gitarrenverstärker Marshall 1987X – der Sound
In der heutigen Zeit, wo jeder Kemper/Axe FX User die Marshall Presets aus seiner Algorithmusansammlung kennt, nahezu aber niemand von ihnen die Original-Sounds einmal in echter Körperlichkeit in Form eines analogen Amps erfahren hat, erscheint es fast als eine Art Grundausbildung, jedem Musiker die Möglichkeit eines „echten“ Marshall Sounds einmal zuteil werden zu lassen. Nur wer das Original einmal erfahren hat, versteht das zuweilen auch stark verklärte „Gute-alte-Sounds“ Gesülze der Generation 50/60+.
Dieses gestaltet sich aber mit den knapp 60 Jahre alten Originalen recht schwierig, da ihre Zahl erwartungsgemäß ständig abnimmt und die wenigen guterhaltenen Exemplare von ihren Besitzern einem heiligen Gral gleich gehütet werden. Wer also über keinen Opa verfügt, der einst in einer Beatband einen flotten Draht gezupft hat, muss mit den mehr oder minder am Original orientierten Reissue-Modellen Vorlieb nehmen. Dabei muss man sich auf der Herstellerseite fragen, ob man das Vintage-Original 1:1 kopieren möchte oder ihm modernere oder zumindest praxisgerechtere Elemente hinzufügen möchte. Gebaut wird der Amp übrigens in UK, wohl auch um den Reissue-Charakter zu unterstreichen.
Zwei der klassischen Elemente der Originale waren die P2P (Point-To-Point) Verdrahtung und die Gleichrichterröhre. Bei den Auflagen der Marshall HW (Handwiring) Serie hat man sich für das sehr aufwändige P2P-Verfahren entschieden, die Gleichrichterröhre ist aber wohl endgültig der Dioden-Gleichrichtung gewichen. Bei dem Marshall 1987X hat man sich nicht nur für eine kostengünstigere Platinenbauweise entschieden, sondern dem Amp auch einen von den Nutzern immer wieder gewünschten FX-Loop verpasst, der insbesondere in Verwendung mit Delay- und Reverb-Effekten die praxisgerechtere Lösung darstellt.
Regler, Aufbau und Röhren des Marshall 1987X
In einigen Berichten werden die klassischen Plexis als zweikanalige Amps bezeichnet, was mit Verlaub Blödsinn ist, es sei denn, man möchte jeden Verstärker, der über einen Low/High-Eingangsbereich verfügt, ebenfalls als Zweikanaler bezeichnen. Die vier unterschiedlichen Eingänge treffen eine Vorauswahl bzgl. der Eingangsempfindlichkeit und des Höhenanteils und lassen sich bekanntlich auch mittels eines Patch-Kabels mischen, aber ich prognostiziere, dass 90 % aller Sounds über den Eingang Volume 1 oben gefahren werden, jenem Eingang, der die größte Empfindlichkeit und die stärksten Höhenreserven bietet.
Die Klangregelung ist klassisch dreibandig und ganz wie im Sinne von Jim Marshall vergleichsweise uneffektiv. Jim Marshall soll gesagt haben, dass dies mit Absicht geschieht, „damit man mit dem Amp keinen schlechten Sound einstellen kann“. Sehr hübsch formuliert, was aber nichts anderes bedeutet, als dass er die Gitarristen seiner Zeit bzgl. Sound für Idioten gehalten hat ;-) Natürlich darf auch die Presence-Regelung der Endstufe nicht fehlen. Dann noch Power/Standby-Schalter, fertig ist die Legende.
So klingt der Marshall 1987X Gitarrenverstärker
Legende? Einkanaler? Und dann einen Ladenpreis von knapp 1.400 Euro? Da wird der eine oder andere Nachwuchsgitarrist die Stirn in Falten legen und sich die Frage nach dem Gegenwert stellen. Einfach nur das größte Trademark der Musikaliengeschichte auf die Holzkiste kleben, kann es ja nun nicht sein, oder? Beileibe nicht!
Lassen wir einfach mal die ganze Historie bzgl. „wir hatten ja nichts anderes“ und dem damit verbundenen Spieltrieb in Kombination mit ungewöhnlichen Lösungen außer acht, die dann in Verbindungen mit Welthits die Blaupausen für Sounds wurden, die noch heute die Definition aller Rocksounds gelten. Brechen wir doch einmal das ganze Soundgefasel auf einen Nenner runter. Was bringt uns ein Verstärker mit den oben genannten Features und dem oben genannten Ladenpreis? Er bringt uns EINEN Sound und er bringt uns DEN Sound!
Den Sound, den unzählige Hersteller seit Dekaden in ihrem Crunch-Portfolio als Blaupause führen, den Sound, der selbst bei den quäkigsten Software-Plugins als „British“, „UK“, „Stack“ oder was auch immer geführt wird und an dem sich die Algorithmen jeglicher Modeling-Amps messen lassen müssen. Was aber macht diesen Sound so einzigartig und warum wurde er schon unzählige Male mit unterschiedlichen Ergebnissen kopiert?
Zunächst einmal, Marshall war noch nie High-Gain! Was wir Mitte der Achtziger als High-Gain von Marshall her kennen sind allesamt Pedale, die den nötigen Halbwellencut erzeugen. Ja, natürlich hat der Hersteller mittlerweile auch mehrkanalige Topteile im Programm, die auch entsprechend High-Gain erzeugen können, wer allerdings vom „Marshall Sound“ spricht, meint Crunch. Aber nicht irgendeinen Crunch. Gemeint ist der latent hochmittenlastige Peak, der bei der richtigen Verwendung stets ein klangliches Gemisch aus einem Ferrari und einem Tenor-Saxophon erzeugt.
Genau hier liegt aber auch gleichzeitig die Gefahr des Sounds. Ein Marshall Crunch-Sound ist immer nur so gut wie die verwendeten Komponenten hinter dem Lautsprecherausgang, sprich Cabinet, Speaker und Mikrofon. Weit über die Hälfte aller YouTube-Videos, in denen Plexis und ihre Untergruppierungen vorgestellt werden, bestechen durch einen kratzigen und hohlen Sound, der keinerlei Wohlgefühl aufkommen lässt, meist hervorgerufen durch eine mangelhafte Mikrofonierung.
Was aber kann der Amp nun im Detail? Nun, zum einen kann der Amp Clean, streng genommen „Marshall Clean“, sprich einen durchdringenden, klaren Sound, der bei entsprechendem Humbucker-Einsatz auch schon einmal dezent in die Sättigung fährt, allerdings mehr mit der Bandsättigung einer Musikcassette/Tonbandes zu vergleichen, keine echte Verzerrung. Erreicht wird der Sound bei entsprechender Lautstärken- und Input-Wahl. Ich persönlich kenne niemanden, der einen Plexi speziell mit diesem Sound betreibt, aber es ist gut zu wissen, dass es bei Bedarf geht.
Dann natürlich die Paradedisziplin, das Maß aller Dinge: der Crunch-Sound. Im direkten Vergleich zu den alten Gleichrichterröhren-Versionen geht der Marshall 1987X etwas straffer und höhenreicher zu Werke, besitzt aber immer noch genügend „Sag“, um die Endstufe klanglich rechtzeitig mit ins Spiel zu bringen. Apropos Endstufe: 50 Watt Vollröhre sind laut, höllenlaut! Voll aufgedreht klingt der Amp wie jeder andere Vollröhren-Amp furchtbar (alles auf 10 ist eine Marketing-Legende), aber selbst mit dezent aufkommender Endstufen-Sättigung ist der Amp ohne weitere Maßnahmen nur auf einem großen Open-Air zu benutzen.
Wir haben dennoch dank einer Interaktion mit der Gitarre zwei Sounds am Amp, die mit den meisten hochgezüchteten modernen Amps nicht mehr möglich sind. Durch die Rücknahme des Volume-Reglers lässt sich ein sehr eigenständiger Vintage-lastiger Clean-Sound erzeugen, der eine entsprechende Interaktion zwischen Musiker, Gitarre und Amp zulässt. Für Lead-Sounds noch einen entsprechenden Overdrive angeschmissen und fertig ist ein Dreikanaler. Klassisch, legendär und immer sehr, sehr eigenständig, da das Setup alle Stärken und leider auch alle Schwächen des Musikers mit Hebelfaktor unterstreicht.
Bzgl. Lastwiderstand: Ich persönlich vertrete die Meinung, dass nur ein entsprechend ausgelenkter Speaker mit seinem Rückstromverhalten etc. den optimalen Sound ermöglicht. Sollte man dennoch aus Lautstärkegründen mit einem regelbaren Lastwiderstand arbeiten wollen, so empfehle ich die leider vor vielen Jahren eingestellte Load-Box von Marshall, die sich bzgl. der Kompression hervorragend mit Vintage-Amps verträgt.
Wer auch immer als Modeling-User die Möglichkeit hat, sich den Amp in Natura anzuhören, nehmt eure Referenz-Crunch-Sounds, von welchem Modeling-Amp auch immer, macht einen A/B-Vergleich, fahrt nach Hause und weint in euer Kissen.
Als ich DEN als Link im Test sah dachte ich sofort: DEN darf nur EINER hier testen !
Recht so…. Axel hats gemacht 👍
Was den Amp anbetrifft: the monster of rock
@Joerg :-)))
Geiler Amp. Kann man nur empfehlen.
Ich habe seit fast 40 Jahren einen ’68 Marshall JMP50 „Plexi“. Den hatte ich mir damals als Schüler für 300 DM gebraucht gekauft. Dazu kam dann noch eine von einem Tischlermeister handgefertigte Marshall-Box Nachbildung aus 4 cm dicken Tischlerplatten mit vier 12″ Celestion 100 Watt Speaker (wurde eigentlich auch für ein E-Bass-Setup gebaut), super-schwer und abgenutzt für 150 DM und ein Boss DS-1 Distortion. Amp und Box sind auch bis jetzt die ersten und einzigen die ich mir je gekauft habe, weil ich mit dem Sound immer zufrieden war (selbst bei der Metalcore-Band in der ich zuletzt gespielt hatte aber mit anderen Bodentretern dann). Lediglich der DS-1 war irgendwann mal kaputt und wurde gegen einen Ibanez PL5 Powerlead getauscht. Neben einigen Röhrensätzen, erneuerten Elkos musste wegen einiger unangenehmer Ausfälle die Gleichrichterröhre im JMP50 einem Dioden-Gleichrichter weichen. Seitdem hat der Amp mich niemals im Stich gelassen.
Für „nur“ 50 Watt brüllt der Amp in meinem Setup abartig laut. Selbst schon bei meiner Lieblingsstellung des Volume-Reglers, 7-8 von 10 kann man sich eigentlich vor der Box durch den Schalldruck die (bei mir fast nicht mehr vorhandenen) Haare trocknen :-D
@SynthUndMetal Ich habe ein ähnliches Ding mit einem alten Valvestate-Combo (Bi Chorus 200), der hat zwar nur eine Röhrenvorstufe und der Rest ist Transistor, aber ich war mit dem Sound auch immer zufrieden.
ich war sogar zu zufrieden und weil ich die Potis der Klangregelung so selten benutzt habe (Bässe und Höhen voll rein, Mitten raus), kratzen die ganz schrecklich.
Aber dieses dunkle Grollen hat mir bisher noch keine Ampsimulation bieten können.
@Axel
Schöner Test!
Hallo Axel,
Leider steht in dem Artikel nichts darüber, über welche Speaker Du den Amp gespielt hast und über welches Equipment der Amp mikrofoniert wurde.
… würde mich interessieren
Hallo Rainer, hier die Auflistung:
– Strat Lim. Ed. von 1993 mit Texas Special Pickups
– Fame Firecat mit EMG Pickups
– Cordial Ironfinger Cable
– 412 Marshall Cabinet mit Celestion G12 75T Speakern
– 2x SM57
VG
Axel