The Joshua Tree - Die Entdeckung Amerikas
The Joshua Tree war mit großer Wahrscheinlichkeit das Album des Jahres 1987, einem Jahrgang, der nicht gerade arm an großartigen Alben war – man denke nur an Prince (Sign O‘ The Times), Depeche Mode (Music For The Masses), Guns N‘ Roses (Appetite For Destruction) oder INXS (Kick), um eine Handvoll zu zitieren. Und mehr als bloß nur U2s fünftes Studioalbum war The Joshua Tree ein Werk, das nicht lange brauchte, um sich in der Gunst der Musikliebhaber als Classic Album zu etablieren. Obendrein erwies es sich für die Band als der Schlüssel, der ihr den Eintritt in die Hallen der Rock ’n‘ Roll Aristokratie gewährte – das, was man normalerweise „Durchbruch“ nennt. Wie aber alles zustande kam, jetzt im Making of: U2 The Joshua Tree.
U2 The Joshua Tree: Der Weg dahin
Wenn man versucht, den sogenannten „Sound der 80er“ zu charakterisieren, greift man oft und gern auf Adjektive wie „künstlich“, „effekthascherisch“ oder „oberflächlich“ zurück. Fast so, als ob es um ein musikalisches Korrelat der bunten visuellen Ästhetik ginge, die das damals frische MTV-Format aufzubauen half. Verglichen mit einigen ihrer weitaus erfolgreicheren Zeitgenossen repräsentierten U2 jedoch etwas ganz anders, denn ihr Diskurs war von Idealismus und Pathos (in bester irischer Tradition, könnte man sagen) durchdrungen und ihr Sound war hart, wenn auch manchem Filigran nicht abgeneigt. Image war indes eher zweitrangig.
Auf dem Ende 1983 erschienenen Livealbum „Under a blood red sky“ hörte sich die Band so an, als nehme sie Anlauf, um auf die Bretter der ganz großen Bühnen zu springen, womöglich mithilfe eines massenkompatibleren Sounds, versteht sich. Aber so kann man sich täuschen, denn Bono & Co. ließen sich die Chance nicht entgehen, für das nächste Studioalbum zum ersten Mal in ihrer noch jungen Karriere das Steuer herumzureißen. Und so machte Stammproduzent Steve Lillywhite Platz für gleich zwei Kollegen, nämlich Brian Eno und Daniel Lanois – der experimentierfreudige Eno sollte seine Erfahrung in Sachen „lasst-uns-was-Neues-ausprobieren“ der Band zur Verfügung stellen; seinerseits hatte sich der Frankokanadier Lanois als Toningenieur/Produzent mit einem Faible für atmosphärische Klangbilder bereits einen Namen gemacht.
Das Ergebnis jener Zusammenarbeit war The Unforgettable Fire, ein etwas sperriges Werk dessen Klangarchitektur definitiv komplexer war als man von der Band gewohnt. Mit „Pride (in the name of love)“ und „Bad“ hatte das Album dennoch zwei Überhits in petto, die auch live gespielt werden wollten. U2 tourten daraufhin ein Jahr lang um die Welt, aber größtenteils in Nordamerika – eine Erfahrung voller Eindrücke, die beim anstehenden Studiobesuch eine entscheidende Rolle spielen sollten.
U2 The Joshua Tree: Let’s work!
Auf der Suche nach einer anderen, kreativitätsfördernden Arbeitsatmosphäre als in den bewährten Windmill Studios blieb man zwar in Dublin, aber diesmal zogen Band und Produzententeam im Januar 1986 ins Danesmoate House ein – kein konventionelles Tonstudio, sondern ein altes Anwesen, dessen große Räume zum Zweck dieser Aufnahmen entsprechend hergerichtet worden waren.
Die von Daniel Lanois vorgeschlagene Arbeitsmethodik, alle Bandmitglieder zusammen in einem Raum spielen zu lassen und die daraus entstandenen live-im-Studio-Takes als Kern des Albums zu benutzen, stellte für die im Livebetrieb erprobte Truppe kurioserweise ein Novum dar. Der Aufnahmeprozess sollte später auch in anderen Locations (ja, sogar in den Windmill Studios!) fortgesetzt werden, während der Zeitplan sich in die Länge zog, aufgrund der Beteiligung der Band an diversen Aktivitäten, die ihr wachsendes Engagement in sozialpolitischen Themen betrafen. Würde man dies als mangelnde Fokussierung auffassen, würde man die Tatsache übersehen, dass die Auseinandersetzung mit diesen Erfahrungen an Orten wie Äthiopien oder Mittelamerika The Joshua Tree zu einer breiteren thematischen Tiefe verhalfen.
Am Ende sollte alles so schnell gehen, dass der letzte, rasende Mixing-Marathon erst in der Nacht vor dem Verstreichen des von Island Records festgelegten Abgabetermins zu Ende ging. Altproduzent Steve Lillywhite, jetzt als Mann für den Feinschliff angeheuert, flog selbst nach London, um der Plattenfirma die Bänder persönlich auszuhändigen.
Die Zusammenarbeit mit Eno und Lanois brachte erneut musikalische Früchte erster Güte hervor und bedeutete für U2 auch eine Abkehr von dem vom Post-Punk geprägten Puls der ersten Alben, hin zu neuen Kompositionen, in denen der Einfluss (nord)amerikanischer Genres (Country, Blues, Gospel usw.) nicht zu überhören ist. Ohnehin könnte man U2 The Joshua Tree als Konzeptalbum über die USA betrachten, denn textlich erklingt es einerseits wie eine Liebeserklärung an das „mythische Amerika“, wie die Band immer wieder klarstellte, an ihre Kultur und Landschaften; andererseits das Anprangern dessen, was die raue Außenpolitik Amerikas anzurichten pflegt, gestern wie heute. Und dazwischen Geschichten von Sehnsucht, Verlust und persönlichen Schicksalen. Alles eingepackt in ein intensives 50-minütiges Hörerlebnis.
U2 The Joshua Tree: Ein lupenreines Gitarrenalbum?
Die Frage ist eigentlich als kleine Provokation gemeint und die Antwort darauf ist ein klares „Nein“. Und dennoch: Mit seiner facettenreichen Arbeit auf The Joshua Tree durfte Gitarrist The Edge ein für alle Mal all das bestätigen, was er in den Jahren zuvor in Sachen Originalität und Wiedererkennungswert angedeutet hatte. Sein kreativer Umgang mit Effekten (allen voran mit Delays) sollte letztendlich Maßstäbe für ein anderes, umfangreicheres Verständnis von „Leadgitarre“ setzen. Dieses spiegelt sich vor allem in Form von unzähligen, ineinander geflochtenen E-Gitarren-Schichten wider, welche im geräumigen Klangbild von U2 The Joshua Tree eine entscheidende Rolle spielen.
Auf welches Werkzeug The Edge zurückgriff, um diese akustische Farbpalette zu erschaffen? Hier eine kleine Auswahl ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
Überall auf The Joshua Tree ist die schwarze 1973 Fender Stratocaster vertreten, auf der The Edges aktuelles Signature-Model basiert, mit einem Steg aus Messing und einem DiMarzio FS-1 anstelle eines Pickups aus dem Hause Fender an der Stegposition. Laut Aussage des Gitarristen selbst pflegt er diese Modifizierung in all seiner Strats zu machen, weil ihm der Klang der Original-PUs zu stechend und dünn sei – Mängel eben, die dank des FS-1 anscheinend Geschichte sind.
Eine E-Gitarre der besonderen Art, nämlich die Bond Electraglide, fand ihren Platz auf mindestens einem Drittel der Songs auf The Joshua Tree. Aus Kohlefasern hergestellt, wies die Electraglide eine Handvoll kurioser Features auf, wie z. B. ein in schwarz anodisiertes Griffbrett aus Aluminium – besonders extravagant dabei war die stufenartige (bzw. zackenförmige, wenn von der Seite betrachtet) Ausrichtung der Bünde. Der Korpus verbarg zudem ein Motherboard, das für die ganze Elektronik des Instruments zuständig war und eine externe Stromversorgung brauchte. Dadurch war die Bühnentauglichkeit der Electraglide sehr gering (um es mild zu formulieren) und ihr Glück besiegelt. Nichtsdestotrotz wurden immerhin ca. 1400 Instrumente gebaut, bevor Bond 1986 die Produktion einstellte.
Eines der prägendsten musikalischen Momente auf U2 The Joshua Tree findet im Klassiker „With or without you“ statt, mit freundlicher Unterstützung einer Gitarre, die eben nicht wie eine klingt – der vom Avantgardegitarristen Michael Brook entwickelten Infinite Guitar. Es handelte sich eigentlich um eine neuartige Pickup-Schaltung, die, in einem Strat-Nachbau (möglicherweise einem Fabrikat der japanischen Imitatenmeister von Tokai) montiert, auf einer weniger umständlichen Art das ermöglichte, was man von dem damals bereits existierenden E-Bow kannte: endloses Sustain. Somit war die Infinite Guitar ein Vorreiter der heute bekannteren Sustainer- bzw. Sustainiac-Systeme, denen sich The Edge auch bedient, wenn WOWY Teil der Setlist (also, immer!) ist.
Zum Einsatz kam auch vor allem im heiteren „In God’s Country“ eine Yamaha AE2000, eine eher ungewöhnliche Wahl, an der The Edge seinerseits besonders ihren zwischen Country und early-rock‘n‘roll-Charakter schätzte. Die Gitarre gehörte später nur kurz zum Live-Arsenal, ist aber prominent im Clip zu With or without you zu sehen.
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Zum Gitarrenbesteck bei den Aufnahmen gehörte auch eine Washburn EA-40 Woodstock Festival Acoustic, die mit einem Bill Lawrence Pickup bestückt war und so nicht nur für reine Akustikparts benutzt wurde, sondern teilweise auch anstelle einer „echten“ Elektrischen.
In Sachen Verstärker blieb die Wahl mehr als übersichtlich, denn The Edge verließ sich für The Joshua Tree auf seinen rüstigen VOX AC-30.
In den Anfangstagen gab es bei The Edge nur eine Split-Box und zwei unterschiedlich eingestellten Memory Man Delays zwischen seiner Gitarre und Verstärkern. In dieser Hinsicht hatte der Rig des sympathischen Iren zum Zeitpunkt der Sessions zu The Joshua Tree einen langen Weg zurückgelegt und so war in seinem Rack einiges zu finden, was in der goldenen Ära der digitalen Multieffekte Rang und Namen hatte: das SDD Korg 3000 und das AMS SDMX für Delays und das Yamaha SPX90, mit dem The Edge u. a. seine allgegenwärtigen Shimmer-Sounds realisieren konnte.
U2 The Joshua Tree: Die Zeit danach
Auf die Romanze der Band mit den USA – im Kinofilm Rattle And Hum dokumentiert – folgte eine Phase des Überdrusses und die Notwendigkeit eines Resets, sowohl persönlich als auch künstlerisch. Das nächste, spannende Kapitel sollte im wiedervereinigten Deutschland geschrieben werden – ohne Zweifel einer zukünftigen Story unserer Making-of-Reihe würdig!
Kleine Korrekturen zur Technik:
Brian Eno und Daniel Lanois zusammen haben The Edge den Shimmer Effekt verpasst. Dieser bestand aus AMS DMX 15-80s Delays, die vom 15-80s pitch-geshifted und mit Feedback in ein Lexicon 224 (nicht 224X oder XL) geschickt und wieder in sich selbst zurückgeführt wurden. Das geschah live über einen Custom-Mixer von Bradshaw, der fest im Rack verbaut war, live wurde dafür dann das SPX 90 für den Hall benutzt. Diese Audio-Kette wurde dann an den Rand des Übersprechens gebracht, so entstand der absolut einmalige Shimmer-Sound.
Über Jahrzehnte wusste kaum ein Mensch, wie das geht, inzwischen finden sich ziemlich schrecklich klingende „Shimmer-Abklatsche“ in fast allen Bodentretern, die etwas mit Hall zu tun haben. Die einzigen Hersteller, die es aber „TheEdge-mäßig“ können, sind allen voran GFI System und Eventide. The Edge hatte deshalb auch zeitweise einen Eclipse im Rack. Für Studio-Aufahmen dürften es immer noch die alten Originale von AMS und Lexicon sein, weil TheEdge ein Besessener ist, dem es darum geht, einen Sound im Original darzubieten, nicht als ähnliche Kopie.
Das wichtigste Delay seit Unforgettable Fire ist das 1980er Korg SDD3000 Rack, nicht das im Artikel abgebildete Bodengerät. Das neue Ding ist nett, klingt aber nicht wie ein SDD3000 Rack. Der PreAmp klingt dünner und quäkig, wahrscheinlich, damit die weiteren digitalen Delay-Modes annähernd ihrer Idee nach klingen können. Daniel Lanois hatte The Edge übrigens auf das SDD3000 gebracht, ab da wollte Edge es nur noch benutzen.
Der PreAmp im Original klingt bei niedriger Verstärkung einfach nur glasklar in den Mitten und macht dicken Bass und seidige Höhen. Bei hoher Verstärkung kommt eine Portion kratziger Schmutz dazu, was zusammen mit den Dimple-Plecks, die TheEdge benutzt, genau den richtigen Anreiz für den AC30TB von 1964 liefert, am Rand zu verzerrt, die herrlichen Sounds zu liefern, die alle U2 Fans so lieben. Auch der abgebildete Amp ist kein 64er TopBoost…
Soweit ich weiß, waren die Haupt-Delays auf The Joshua Tree dann 2 TC2290 Delays, TheEdge hat damals aber immer noch den PreAmp vom SDD3000 benutzt und ging dann in die TC Delays. Für manche Signature Sounds war aber das SDD3000 unersetzbar, weshalb Dallas Schoo, TheEdges Gitarren Tech zwischen den Songs auf die Bühne musste, um die SDDs kurz zu programmieren. Warum? Weil die alten Dinger nur 9 Speicherplätze haben und auch gerne mal ihr Gedächtnis verlieren, kein Witz^^
Der Hammer beim SDD Rack sind die getragenen, wolken-artigen Delays, die ähnlich wie ein Deluxe Memory Man schweben können. Ich habe bisher keine anderen Geräte gehört, die das zustande bringen, auch nicht das sdd3000 Bodengerät. Was dort vergessen wurde zu emulieren, sind die Schwankungen der Delays, die zusätzlich zu den eingestellten Werten passieren. 350ms sind dort nicht 350ms, sondern z.B. 349,9 bis 350,1 sehr langsam im Verhältnis zur eigentlichen Modulation sinusförmig moduliert. Dazu kommt dann erst noch die eigentliche Modulation des SDD. Die alten Digital-FX verhielten sich nicht starr, sondern führten ein Eigenleben und diese Imperfektionen machten den Sound.
Als kleine Ergänzung für andere Hardcore-Fans ;)
Alle 3 Beiträge brilliant … Chapeau !
Wow, danke für die weiteren Infos! Ich als großer Fan des Edge-Sounds finde es klasse, solche „Internas“ zu bekommen!
Danke dafür !!
Nachdem sich dieser Artikel schön anließ, versandet er zum Schluss bei den auf dem Album zum Einsatz gekommenen Gitarren. Schade eigentlich, denn der Autor hat ja seine Frage nach dem reinen Gitarrenalbum selbst verneint.
Eine Band, die sich in all den Jahren immer wieder neu erfunden hat, ohne ihrem Stil gänzlich untreu zu werden