Neue Funkmikrofone braucht das Land
2015 ist ein gutes Jahr für Hersteller von drahtlosen Mikrofonanlagen. Denn die digitale Dividende hat neben einem Milliardenerlös für die Bundesnetzagentur dafür gesorgt, dass wir erstens schnelles mobiles Internet via LTE nutzen können und zweitens, dass ein großer Teil der bestehenden Funkmikrofonsysteme Ende 2015 reif für den Sperrmüll ist. Für all diejenigen, die die Anschaffung einer neuen Drahtlosanlage noch vor sich herschieben, bietet Line6 mit dem XD-V55 eine einfach zu bedienende drahtlose Mikrofonanlage an, die neben der Verwendbarkeit nach 2015 auch mit unkonventionellen Features, wie Mikrofon-Modeling punkten kann. Die Zielgruppe für das XD-V55 dürften vor allem semi-professionelle Musiker sowie Alleinunterhalter sein, die Wert auf eine unkomplizierte Bedienung legen, aber keine Abstriche beim Klang und der Road-Tauglichkeit machen wollen. Wie gut sich das drahtlose Mikrofon XD-V55 von Line6 in der Praxis schlägt, wird der ausführliche Testbericht hier auf Amazona.de zeigen.
Line6 ist hierzulande ja eher für seine Amp- und Gitarren-Simulationen bekannt, besitzt aber auch ein erstaunlich großes Produkt-Portfolio im PA-Bereich. Da tummeln sich neben Lautsprechern und digitalen Mischpulten eben auch Funkstrecken für den Live-Betrieb. Dass Line6 des Öfteren unkonventionelle Wege bei der Produkt-Konzeption geht, beweist vor allem der Smart-Mixer StageScape M20d, doch auch das vorliegende Funkmikrofon XD-V55 kann mit einigen Besonderheiten aufwarten.
Ausgepackt
Im Lieferumfang befinden sich der XD-V55 Empfänger, das zugehörige Funkmikrofon, ein externes Netzteil, eine Mikrofonklemme und zwei AA-Batterien. Line6 bietet für seine Drahtlos-Produkte zusätzlich umfangreiches Zubehör an. Angefangen bei Wechselkapseln für den Handsender über Paddelantennen, Headsets und Koffer lässt sich einiges an Zubehör für den XD-V55 erwerben. Es gibt das XD-V55 auch in Kombination mit einem Taschensender für Headsets, Lavaliermikrofone und E-Gitarren. Der Empfänger ist ausgangsseitig professionell mit einer XLR-Buchse und parallel mit einer unsymmetrischen Klinkenbuchse ausgestattet. Die beiden Antennen lassen sich über BNC-Buchsen anschließen und bei Bedarf auswechseln. Der Netzteilanschluss ist nicht verschraubbar, bietet aber eine Zugentlastung gegen versehentliches Herausziehen. Im Batteriefach gibt es eine klappbare Batterieabdeckung, die etwas abbruchgefährdet scheint, doch die Verarbeitung ist ansonsten robust und uneingeschränkt live-tauglich.
Insgesamt stehen zwölf Kanäle zur Verfügung, die auch alle gleichzeitig benutzt werden können. Pro Kanal stehen dank True Diversity Betrieb jeweils zwei Frequenzen zur Verfügung. Diese sind fest vorgegeben und können im Handbuch nachgelesen werden. Das Abgleichen der Kanäle ist dafür umso einfacher und man kann nichts versehentlich falsch einstellen. Als Besonderheit bietet Line6 im XD-V55 vier virtuelle Mikrofonmodelle, dazu aber mehr im folgenden Praxisteil.
Praxis
Das XD-V55 Funkmikrofon besitzt eine auswechselbare Mikrofonkapsel in Nierencharakteristik und eignet sich damit am besten für die klassische Bühnensituation mit einem Monitor direkt hinter dem Mikrofon. Wer sich auf der Bühne lieber von zwei Monitoren links und rechts beschallen lässt, der sollte eher zu einer Kapsel mit Super- oder Hypernierencharakteristik greifen. Super- und Hypernieren haben die geringste Empfindlichkeit, wenn sie von der Seite beschallt werden, während die klassische Nierenkapsel, zum Beispiel im SM58, direkt auf der Rückseite die geringste Empfindlichkeit aufweist. Für einen möglichst lauten, aber Feedback freien Monitorsound sollte man das stets im Hinterkopf behalten.
Das Mikrofon besitzt ein hintergrundbeleuchtetes LC-Display und zwei Taster. Die beiden Taster sind versenkt angebracht und besitzen einen festen Druckpunkt. Ein versehentliches Verstellen oder Ausschalten ist hier eigentlich ausgeschlossen. Dafür ist das Einschalten eher schwierig. Mit dem Daumen kam ich anfangs nur mühevoll weit genug in die Aussparung hinein. Ein Musiker, der das Mikrofon nicht kennt, wird es im hektischen Live-Betrieb eventuell nicht anschalten können. Nach kurzer Eingewöhnung ist das Schalten aber kein Problem. Da muss man als Tonmann einfach ein bisschen aufpassen und Nichtkundige einweisen. Line6 weist im Handbuch sogar darauf hin und hat bei eventuellen Problemen gleich eine Abhilfe parat. Unter der Batterieabdeckung befindet sich nämlich ein Lock-Schalter, mit dem die Bedienelemente gesperrt werden können. Das heißt im Zweifelsfall einfach das Mikrofon anschalten, einstellen und dann sperren, dann kann auch bei ständig wechselnden Sängern/Sprechern ein versehentliches Ausschalten effektiv vermieden werden. Aber dieser Punkt ist für alle Hersteller von Funkmikrofonen ein schmaler Grat: Wie schafft man es, ein Funkmikrofon bedienbar zu machen, ohne dass es versehentlich ausgeschaltet oder verstellt werden kann?
Bedienung
Die grundlegende Bedienung ist kinderleicht, eine Bedienungsanleitung braucht man eigentlich nicht. Doch in dem sogenannten Pilotenhandbuch des XD-V55 finden sich einige nützliche Hintergrundinformationen, die es durchaus lesenswert machen.
Viel einzustellen gibt es am Empfänger nicht. Am Drehrad lässt sich einer von zwölf Kanälen einstellen, der natürlich dem Kanal im Handsender entsprechen muss. Daneben gibt es einen Schalter für den Dynamic Filter. Ist dieser aktiviert, schaltet sich bei leisen Pegeln (z.B. Sing- und Sprechpausen) eine Kombination aus Expander und Low Cut ein. Damit können beispielsweise Windgeräusche bei Open-Air Veranstaltungen oder Griffgeräusche sowie Übersprechen abgemildert werden. Links gibt es mehrere LED-Stausanzeigen, die Auskunft über die Empfangsqualität, den Batterieladezustand und den Audiopegel geben. Apropos Audiopegel – der lässt sich weder im Handsender noch im Empfänger verändern. Viele Konkurrenzprodukte bieten diese Option, da ein zu hoher Eingangspegel im Handsender schon zu Verzerrungen führen kann, obwohl Mischpultseitig alles im grünen Bereich ist. Andererseits sollte die Vorverstärkung im Handsender auch groß genug sein, damit das Audiosignal die Bittiefe des A/D-Wandlers möglichst gut ausreizen kann. Welchen Weg Line6 beim XD-V55 geht, ist nicht dokumentiert. Fakt ist aber, dass ich selbst durch Schreien keine Verzerrungen provozieren konnte. Line6 verfolgt hier ein klares Konzept, das darauf abzielt, Bedienfehler von vornherein auszuschließen.
Vorbildlich finde ich auch die Batteriestandsanzeige am Sender und am Empfänger. Am Handsender wird sogar die verbleibende Betriebszeit angezeigt. Mit zwei guten AA-Batterien ist die maximale Laufzeit mit acht Stunden angegeben, was in den meisten Fällen mehr als genug ist.
Auf dem Mikrofon selbst ist ein Aufkleber angebracht, der erklärt, wie man die virtuellen Mikrofon-Modelle wechselt. Einfach eine Sekunde Select drücken, dann kommt man ins Menu und kann über die Mute-Taste die Kanäle von eins bis zwölf durchschalten. Drückt man zweimal Select, kann man die vier Mikrofon-Modelle durchschalten. Zur Auswahl stehen SM58, SM57, Sennheiser E835 und ein mit Line6 betiteltes Modell. Die Vorbilder werden gut getroffen, das SM58 klingt etwas dumpfer, das SM-57 eher mittig und das Sennheiser E835 etwas frischer obenrum. Am besten klingt meiner Meinung nach aber das Line6 Modell. Es ist schön präsent und ausgewogen, schon ein bisschen wie mit dem EQ vorgeformt. Da reicht am Mixer in den meisten Fällen schon ein Low Cut als weitere Klangbehandlung. Das Line6 Modell ist auch eine Nuance lauter als die anderen Modelle, was auch ein gern verwendeter Trick bei Plug-ins ist, um sie im A/B-Vergleich besser klingen zu lassen. Damit lassen sich selbst ausgebildete Ohren austricksen, denn schon minimal lauter wird in dem Fall automatisch mit besser assoziiert.
Nichtsdestotrotz lässt sich sagen, dass die Mikrofonmodelle willkommene Sound-Optionen sind, um den Grundsound auf verschiedene Sänger abzustimmen oder um den Grundklang beispielsweise an kabelgebundene Mikrofone wie den Klassiker SM58 anzupassen. Das größere Modell XD-V75 besitzt sogar zehn Modeling Presets.
Mikrofon-Modeling?
Nun fragt sich der ein oder andere vielleicht: Modeling in einem Mikrofon, wie geht das? Ganz einfach, denn das Line6 XD-V55 ist ein digitales Funkmikrofon. Bevor das Signal auf die Reise geht, wird es schon im Mikrofon in ein digitales Signal gewandelt und per DSP bearbeitet um dann im Empfänger wieder in ein analoges Signal gewandelt zu werden. Das hat unter anderem den Vorteil, dass das aufmodulierte Nutzsignal innerhalb der Trägerfrequenz viel robuster gegenüber Einstreuungen ist, weshalb das System komplett ohne Kompander (Kompressor/Expander-Kombination zur Rauschunterdrückung) auskommt. In dem Funksignal werden nur Nullen und Einsen anstelle des originalen Audiosignals übertragen. Solange diese Nullen und Einsen vom Empfänger decodiert werden können, bleibt das resultierende Audiosignal immer frei von Störgeräuschen, egal wieviel Einstreuungen das Funksignal überlagern. Erst wenn das Nutzsignal so klein wird, dass die Digitalwerte nicht mehr decodiert werden können, setzt das Signal schlagartig aus, Störgeräusche gibt es aber keine. Kurze Aussetzer werden über eine Fehlerkorrektur, ähnlich wie bei der Audio-CD behoben.
Die Wandlung von analog nach digital und zurück braucht natürlich etwas Zeit. Diese wird von Line6 mit 2,9 ms angegeben. Das entspricht in etwa einer Entfernung von einem Meter. Es sind übrigens zwei Wandler mit Gain Staging vorhanden sodass der Gain automatisch angepasst wird. Üblicherweise kommt heutzutage noch eine weitere Verzögerung durch die Wandlungen und Bearbeitungen im Digital-Pult dazu, was in etwa nochmal die gleiche Zeit obendrauf bedeutet. In der Praxis ist es dann so, dass der Bühnenmonitor, statt zwei Meter, gefühlt etwa vier Meter entfernt steht. Normalerweise stört das niemanden, doch die Unmittelbarkeit und Direktheit der rein analogen Signalleitung ist so nicht ganz zu erreichen.
In letzter Konsequenz könnte man sich einfach zwei Wandlungen sparen, indem man dem Empfänger zusätzlich einen Digitalausgang spendiert, was aber selbst in weitaus höheren Preisregionen leider nicht üblich ist.
Frequenzband
Das Line6 XD-V55 überträgt auf einem verhältnismäßig hohen Frequenzband bei 2,4 GHz. Dieser Frequenzbereich ist auch nach 2015 kostenfrei verfügbar und kann weltweit benutzt werden, wird aber auch von WLAN/WiFi sowie Bluetooth beansprucht. Eine störungsfreie Nutzung dieses Frequenzbandes wird von der Bundesnetzagentur deshalb auch nicht garantiert.
Line6 hat dieses potenzielle Problem über die sogenannte Digital Channel Lock-Technologie, eine Art Datenverschlüsselung, gelöst, empfiehlt aber trotzdem einen gewissen Abstand zu konkurrierenden Geräten zu halten beziehungsweise im Zweifelsfall einen anderen Kanal zu probieren. Einstreuungen konnte ich im Test auch mit parallelem WLAN nicht feststellen.
Achten sollte man aber auf „Sichtkontakt“ zwischen Sender und Empfänger. Da die Trägerfrequenz mit 2,4 GHz sehr hoch ist, kommt es relativ schnell zu Signalabschattungen durch Wände oder Gegenstände. In meinem Reichweitentest war drei Räume weiter schon Schluss. Mit einer Wand inklusive Fenster zwischen Sender und Empfänger beträgt die Reichweite noch circa 15 bis 20 Meter. Auf freiem Feld ohne störende Hindernisse bin ich locker auf 60 Meter Reichweite gekommen, dann kam der Zaun, sonst wäre auf jeden Fall noch mehr möglich gewesen. Line6 gibt etwa 100 Meter Reichweite auf freiem Feld an bei einer Sendeleistung von 10 mW. Das erscheint aufgrund des Tests realistisch.
Die alten kostenfreien Frequenzen von 790-814 MHz und 838-862 MHz haben aufgrund ihrer größeren Wellenlänge physikalisch bedingt eine größere Unempfindlichkeit gegenüber Signalabschattungen durch Wände und Gegenstände, was in der Praxis zu einer höheren Reichweite führt. Doch dieser Frequenzbereich wurde von der Bundesnetzagentur an die drei großen Telefonanbieter hierzulande versteigert und darf im Bereich der Veranstaltungstechnik nur noch bis Ende 2015 genutzt werden. So können wir zwar mobiles Highspeed-Internet auf unseren LTE-fähigen Endgeräten genießen, müssen uns aber leider auch neue Funkstrecken zulegen. Es gibt eben nichts umsonst.