Musik-Kollaboration per Web
Die Welt befindet sich im Corona Fieber. Clubs sind geschlossen und Festivals abgesagt. Der Party-Sommer wird düster, besonders für viele frei- und hauptberufliche Musiker, Veranstaltungstechniker, Reinigungspersonal und so viele andere, die ihr täglich Brot im Veranstaltungsgeschäft verdienen.
Vielen in der Quarantäne gefangene Künstler stellen sich die Frage: „Wie verdammt schließe ich meine Projekte ab, wenn meine Mitmusiker doch ebenfalls in häuslicher Isolation gefangen sind?“.
Doch nicht nur die Krisenzeiten stellen Musiker vor die Herausforderung, über lange Strecken zu kommunizieren. Schrumpfende Budgets und die durch die Vernetzung immer größer werdenden Freundeskreise erzeugen auch ohne Viruspandemie den Bedarf an Möglichkeiten der Kollaboration über große Distanzen.
Mit dem folgenden Artikel wollen wir euch einige Optionen aufzeigen, mit denen es vielleicht doch möglich ist, weiter zusammen mit euren Dudes an neuen Tracks zu arbeiten.
Technische Anforderungen an Online-Kollaboration
Was sind sie eigentlich, die Erwartungen die Künstler stellen und welche Herausforderungen ergeben sich für die Entwickler von Hard- & Software, die an eben diesen Features arbeiten?
Parameter-Synchronisation
Der erste Gedanke, der sich auftut ist, dass Parameterveränderungen jeglicher Art synchronisiert werden sollten. Hierzu zählen nicht nur die offensichtlichen Plugin-Parameter, sondern auch die Parameter des Sequencers oder der DAW. In manchen Fällen sogar die Systemeinstellungen der Software.
Tempo-Synchronisation
Ein weiteres sehr offensichtliches Feature ist natürlich die Synchronisation von Tempo, Abspielposition und des Playback-Status. Genau wie im Studio sollten alle Geräte und Software gleichzeitig starten und während des Betriebs dauerhaft synchron bleiben. Hierfür müssen alle der klassischen Herausforderungen, wie feste Latenzen oder Jitter bedacht und kontrolliert werden. Dies erscheint auf den ersten Blick einfach, gestaltet sich aber über lange Strecken und vor allem über das Internet als große Herausforderung.
Talkback
Besonders im Recording-Alltag mit Bands sind Talkback-Mikrofone nicht wegzudenken. Doch auch bei allen anderen Formen der Produktion ist es hilfreich, eine direkte Verbindung zum Produktionspartner zu haben. Diese kann auf Basis von Audio oder auch Video hergestellt werden. In Zeiten von Skype, FaceTime und Zoom erscheint dies auf den ersten Blick als triviale Aufgabe. Doch auch hier müssen die Herausforderungen der Internetverbindung als Basis einberechnet werden.
Musikalische Informationen
In Zeiten moderner Hard- und Software befindet sich in vielen Sequencern alles zu jeder Zeit „in key“. Um dies auch für die Bandpartner zu ermöglichen, ist es oftmals erwünscht, dass musikalische Informationen synchronisiert werden. Hierzu zählen neben dem Key des Songs oder der Passage auch der Grundton. Der klassische Zuruf „G-Major“, der in der Vergangenheit vom Leadgitarristen zum Rest der Band gerufen wurde, muss nun auf andere Weise übertragen werden. Im Normalfall ist dies ein einfaches Spiel, da nur sehr geringe Datenmengen übertragen werden müssen und das akkurate Timing eine untergeordnete Rolle spielt.
Content Synchronisation
Zum Content zählen nicht nur Samples, die übertragen werden müssen, wenn einer der beiden Kollaborateure ein neues virtuelles Instrument in seinen Software-Sampler lädt. Für wirklich tighte Synchronisation können auch weitere Daten abgeglichen werden. So wäre es generell denkbar, dass neben Synthesizer-Patches auch Updates für Instrumente (Reaktor, MaxMSP) übertragen werden.
Die Online-DAW – Bandlab
Auf den ersten Blick mag es einfach erscheinen, Nutzern die Möglichkeit zu geben, gemeinsam Musik über große Entfernungen zu produzieren. Ein Blick auf den Markt und die immer noch rar gesäten Lösungen beweist, dass das Gegenteil der Fall ist.
Mit der Online-DAW Bandlab geht der Hersteller Bandlab Technologies aus Singapur einen komplett anderen Weg als übliche DAWs. Komplett kostenlos und browserbasierend bietet Bandlab eine Sammlung aus vor allem einfachen und verständlichen Tools, die es ermöglichen sollen, Musiker weltweit miteinander zu verbinden. Besonderer Fokus wurde speziell auf Kollaborations-Features gelegt. So wird Unterstützung für mehrere Nutzer und gleichzeitiges Editing geboten. Alle Daten liegen dabei in der Cloud, während das komplette Processing lokal erfolgt.
Die DAW bietet mehr als 200 kostenlose virtuelle Instrumente und mehr als 6000 lizenzfreie Loops und Samples. Für ausreichend Content ist also gesorgt. Auf Profi-Features wie Tonhöhenkorrektur, Amp-Simulationen, Timestretching und Automation muss natürlich ebenfalls nicht verzichtet werden.
Um die erstellten Songs so aufzuwerten, dass man diese nach Fertigstellung direkt dem Label schicken kann, hat der Hersteller eine automatische und vor allem kostenlose Online-Mastering-Funktion integriert. Das ist auch ohne Label und geplantem Release super, um einem Mix das Sahnehäubchen aufzusetzen.
Besonders cool ist, dass alles komplett plattformübergreifend ausgelegt ist. Es existieren sogar native Apps für Android und iOS. So kann wirklich jeder mitmachen.
Der große Nachteil an der Bandlab-Lösung ist, dass das Featureset der DAW leider in keinster Weise mit den ausgewachsenen DAWs der Konkurrenz mithalten kann. Die meisten Musiker sind außerdem über Jahre mit ihrer DAW „verwachsen“ und werden sich so nur schwer davon überzeugen lassen umzusteigen. Die Verwendung des Tools als Sketchpad für die Ideensammlung und das Erstellen erster Entwürfe kann dennoch nützlich sein.
Pro Tools über den Wolken
Avid Cloud Collaboration
Bereits im Jahr 2017, genau genommen ab Version 12.5, kommen Nutzer der DAW Pro Tools in den Genuss des AVID Cloud Collaboration Features.
Die nahtlos in die DAW integrierte Funktion synchronisiert alle Parameter einer Session mit maximal zwei weiteren Teilnehmern. Leider nicht abgeglichen werden die Abspielposition und der Playback-Status. Das hat den Vorteil, dass jeder Nutzer die exklusive Kontrolle über den Abspielzustand des Projektes behält. So können alle Teilnehmer individuell und ungestört arbeiten. Der Nachteil ist, dass man in der Gruppe nicht über die gleiche Referenz verfügt und so eher gleichzeitig anstatt zusammen am Projekt arbeitet.
Der kostenlose Basis-Account von AVID bietet 1 GB Speicherplatz in der Cloud. Durch Kompression der Projektdaten wird deren Speicherplatzbedarf auf circa 30 % gesenkt. So passen etwa zwei bis drei Projekte in einen Account. Wer mehr braucht, kann den Speicherplatz natürlich kostenpflichtig erweitern. Bis zu 2 TB sind momentan möglich. Die Kosten liegen zwischen 4 Euro und 30 Euro pro Monat.

Pro Tools bekommt Flügel – Projekte liegen seit V 12.5 in der Cloud
Bitwig Online Collaboration
Was ist mit Bitwigs Online Collaboration Feature passiert?
Zum Release von Version 1 kündigte das Berliner Unternehmen Bitwig vor einigen Jahren eine Reihe von Knaller-Features an. Eine der am meisten gehypten Programmfunktionen war die Online-Kollaboration. So sollte es möglich sein, mehrere Instanzen der Bitwig-DAW die auf Hosts laufen, die nur über das Internet verbunden sind, in Echtzeit miteinander zu verkoppeln.
Leider wurde dieses Feature bis zum heutigen Tag nicht geliefert. Die Community und auch die AMAZONA.de Redaktion kann es kaum abwarten und wird zum Release natürlich einen Artikel veröffentlichen.

Bitwigs Online-Collaboration Feature wird gespannt erwartet
Projekte Teilen über Cloud Storage
Wie kann man schon jetzt und ohne die Verwendung spezieller Software mit anderen kollaborieren?
Die Nutzung von Cloud-Speichersystemen ist gegenwärtig eine gängige Lösung. Der große Vorteil dabei ist, dass das Ganze ad hoc und kostenlos aufgesetzt und verwendet werden kann.
Auch ist man nicht an eine spezielle DAW gebunden, sondern kann diese Technik mit Projektdateien sämtlicher Hersteller anwenden. Alle, die noch nicht über ein Cloud-Storage-Konto verfügen, können dieses bei Anbietern wie zum Beispiel Dropbox oder Google kostenlos erstellen.
In der Cloud können geteilte Ordner erstellt werden. Diese sind für alle Teilnehmer verfügbar und aktualisieren sich, sobald jemand eine Änderung vornimmt.
Auch komplexe Projektdateien mit vielen Samples können so einfach und schnell geteilt werden. So ist es möglich, mit einer virtuell unbegrenzten Anzahl von Teilnehmern zusammenzuarbeiten.
Natürlich bedarf es bei einer größeren Menge an Nutzern genauerer Absprache darüber, wer gerade an dem Projekt arbeitet. Andernfalls entstehen Zweigversionen und Chaos durch redundante Speichervorgänge aus verschiedenen Quellen.
Der große Nachteil dieser Technik ist, dass alle über das gleiche Setup verfügen müssen. So sind Projekte oft auf die Stock-Plugins der verwendeten DAW reduziert.
MIDI über Netzwerk
MIDI-Synchronisation über das Netzwerk ist mit gängigen Computern ebenfalls, ohne besondere Vorkehrungen zu treffen, möglich. Apple bietet eine extrem stabile MIDI-Synchronisation, fest integriert in das Betriebssystem OSX an. Mit entsprechend guter Anbindung an das Internet und einem VPN-Anbieter kann dieses Signal auch über die Grenzen des Heimnetzwerkes hinaus übertragen werden. Unter Windows ist mit der Verwendung des kostenlosen Tools rtpMIDI Ähnliches möglich.
In einem kommenden Artikel werden wir euch ein detailliertes Tutorial dazu geben, wie ihr diese Verbindungen aufbauen könnt.
Ableton Link
Das Berliner Unternehmen Ableton hat mit Version 9.6 seines Sequencers Live ein hauseigenes proprietäres Synchronisationssystem eingeführt, das auf den Namen Link hört. Da die Nützlichkeit des Systems mit der Verbreitung steigt, haben die Hersteller beschlossen, auch anderen Anbietern die Möglichkeit zu geben, die Link-Funktionalität in ihrer Software einzubauen. Ohne die Installation spezieller Clients ist die einzige Voraussetzung, dass sich alle Teilnehmer im gleichen Netzwerk befinden. Der Algorithmus synchronisiert dauerhaft Tempo und Taktposition aller Clients. Besonders cool ist, dass sich alle Settings von jedem Client aus global triggern lassen.
Everybody is in control.
Der Playback-Status hält sich hierbei natürlich an die auf dem lokalen Gerät selektiere Launch-Quantisierung. Neben der Netzwerksynchronisierung werden auch offline Verbindungen ermöglicht. Hierzu zählen Ad-Hoc.Netzwerke, Ethernet, Thunderbolt sowie Lightning-Kabel und Adapter für iOS-Geräte. Was das System momentan unschlagbar macht, ist das einfache Setup und die weitreichende Kompatibilität.
Good move dudes.
Ein Blick in die Zukunft der Online-Music-Sessions
Advanced Networking Technologies
Was bleibt, ist ein philosophischer Ausblick auf die Zukunft. Immer schneller werden mobile und statische Netzwerke und wachsender Protokoll-Support weitere Türen für Online-Kollaboration eröffnen. Auch andere Übertragungstechnologien, wie zum Beispiel Bluetooth, werden in Zukunft aufgrund steigender Leistung mehr und mehr zur Übertragung von zeitkritischen Echtzeitdaten verwendet werden können.
Viele Hersteller haben bereits entsprechende Funktionen in ihrem Backlogs oder arbeiten an der Implementierung neuer Systeme. Um den Marketingteams dieser Firmen die Überraschung nicht vorwegzunehmen, werde ich mich mit weiteren Details bedeckt halten.
Watch out for the future.
„Wie verdammt schließe ich meine Projekte ab, wenn meine Mitmusiker doch ebenfalls in häuslicher Isolation gefangen sind?“ Wow, klingt ja dramatisch … Aber muss man wirklich synchron und in Echtzeit mit mehreren Leuten online in einer DAW rumbasteln, latenzfrei am besten? Viel praxisrelevanter finde ich das Beisteuern von Audiospuren zu einem bestehenden Songgerüst/Backing wie z. B. Vocals, Gitarrenparts etc. Also klassische Arbeitsteilung unter Spezialisten, auch global & zeitversetzt. Und das geht schon lange problemlos mit den bestehenden Möglichkeiten, große Datenpakete via Internet zu teilen. Also mir persönlich fehlt nichts. Oh Mann, bin ich oldschool.
„Wow, klingt ja dramatisch …“ — Du hast den Ernst der Lage (und damit meine ich nicht nur den Husten, der da gerade grassiert) noch nicht ganz erfaßt.
Welchen Husten , kenne niemand der Husten hat.
Scheint auch nur uns Deutsche zu treffen die Polen , die Schweden und viele andere Nationen scheinen damit kein problem zu haben, deshalb tragen die auch keine Maulkörbe.
@Deepmind: diese Antwort ist also der aktuelle Stand der KI-Entwicklung? Ohje…
Vielen Dank für die Übersicht! Ich möchte noch Steinberg VST Connect erwähnen. Das hat sich – vermutlich auch durch den Lockdown bedingt – erfreulich weiterentwickelt und funktioniert mittlerweile sehr gut. Es macht aus meiner Sicht einen deutlichen Unterschied, ob einfach nur fertige Spuren ausgetauscht werden oder man im Dialog an einer Performance arbeitet. Das macht VST Connect möglich.
Was ich mir in Sachen Low Latency RTAS und Network MIDI wünschen würde von allen Herstellern, Interoperabilität. Es gibt zwar Ansätze hier aber wir sind noch Meilenweit von einem Standard entfernt. Momentan haben wir sieben offene Standards und zehn propietäre „Quasi-Standards“. Was das Leben nicht wirklich einfacher macht. Zumal ich hier noch gar nicht die Applikations und Betriebssystem Ebene ankratze. Also gebt euch einen Ruck und werdet euch einig. :)
Im Jazz als auch der improvisierten Musik stellt sich die Frage gar nicht: „Wie verdammt schließe ich meine Projekte ab, wenn meine Mitmusiker doch ebenfalls in häuslicher Isolation gefangen sind?“. Es wird einfach online improvisierend auf die Zutaten von anderen musikalisch eingegangen, und unabsehbar irgendwann aufgehört …
Komponisten stellt sich Frage ebenfalls nicht, falls sie ihre Stücke vertonen, mit wie vielen Instrumenten auch immer. Resultate ließen sich z.B. auf Soundcloud abspeichern …
Es muss etwa 1997/1998 gewesen sein, damals war Logic noch bei Emagic und Emagic eine deutsche Firma, als Vernetzung zwischen unterschiedlichen DAWs mittels Rocket Technologies ermöglicht wurde. Ich habe dazu tatsächlich noch einen Artikel gefunden:
https://www.audiotechnology.com/PDF/5/AT5_Using_Rocket_Network.pdf
Ich bin zu der Zeit noch per 56k-Modem Ins Internet gegangen, und von Echtzeit konnta da keine Rede sein. Aber man konnte in seiner Lieblings-DAW einen Take aufnehmen, und über das Rocket-Network tauchte dieser dann einige Minuten später bei allen anderen, die am gleichen Projekt arbeiteten auf, und das plattformübergreifend.
Das wurde dann irgendwann wieder eingestellt, war wohl seiner Zeit voraus. Schade eigentlich.
Reaper hat mit Ninjam die Lösung.
https://youtu.be/P-cUmSw7nF4
„So sind Projekte oft auf die Stock-Plugins der verwendeten DAW reduziert“
Genau DA sehe ich den Vorteil.
Schwierig, pupierig!
Klar kann man das abfeiern. Mir wären gebouncte Spuren aber lieber. Etwas in Jam Sessions zu entwickeln, ist nicht Jedermanns Sache.
Glaube auch nicht, dass sich das wirklich durchsetzt. An dem Thema ist man schon jetzt seit 20 Jahren dran.