Bebop und Latin Jazz waren sein Leben
Er wurde kaum älter als Mozart, hatte ein Leben lang Schmerzen, war kleinwüchsig und galt offiziell als Schwerbehinderter. Und war einer der wichtigsten Jazzpianisten des 20. Jahrhunderts. Michel Petrucciani prägte einen fulminanten Stil zwischen Bebop und Latin Jazz und inspirierte Generationen von Musikern bis heute. Am 6. Januar jährte sich sein Todestag zum 25. Mal.
Michel Petrucciani war der jüngste Sohn einer Französin und eines neapolitanischen Jazzgitarristen und wuchs in der Provence auf. Er litt an der Glasknochenkrankheit und maß gerade mal 99 cm, hatte aber vergleichsweise große und starke Finger. Dennoch war er eigentlich viel zu klein für das Klavier. Die Pedale spielte er über einen erhöhten Mechanismus, während er mit seinen kurzen Armen nur einen Teil der Klaviatur erreichen konnte. Doch hinderte ihn dies nicht, eine beispiellose Karriere zu machen.
Das Spielzeugklavier wird zertrümmert
Der Legende nach habe er mit vier Jahren einen Beitrag über Duke Ellington am Fernsehen gesehen und daraufhin seine Eltern angebettelt, sie mögen ihm ein Klavier kaufen. Was er daraufhin bekam, war ein Spielzeugklavier, das der kleine Michel kurzerhand mit einem Hammer zertrümmerte. Er wollte ein richtiges Klavier, das man ihm dann zum Glück auch schenkte. Anschließend übte er mehrere Stunden täglich und das noch im Vorschulalter.
Normalen Schulunterricht bekam er wegen seiner Behinderung nicht. Stattdessen schickte man Tonbandkassetten mit Unterrichtslektionen nach Hause. Michel überspielte die Kassetten mit Musik … und übte weiterhin stundenlang, bis zu zwölf Stunden pro Tag, so dass er bereits mit dreizehn Jahren sein erstes Konzert als Profimusiker an einem Jazzfestival in Frankreich spielte. Mit 15 wurde er Berufsmusiker bei Kenny Clarke. 1980, da war er gerade mal 17, veröffentlichte Michel sein erstes Album Flash. Ein Jahr später zog er nach Kalifornien, ohne ein Wort Englisch zu sprechen und fand schnell Anschluss bei der Band von Charles Lloyd, mit dem er weltweit auftrat.
Es folgten Aufnahmen und Auftritte mit John Abercrombie, Wayne Shorter, Steve Gadd, Anthony Jackson, John Scofield, Charlie Haden, Stéphane Grapelli, Jim Hall, Jack DeJohnette, Palle Danielsson und vielen mehr. Kurz gesagt: Petrucciani gehörte mit Mitte 20 zur Crème de la Crème der amerikanischen und europäischen Jazzszene und war der erste nichtamerikanische Künstler, der bei Blue Note unter Vertrag genommen wurde. In Deutschland wurde er einem breiten Publikum durch verschiedene Auftritte in Roger Willemsens TV-Sendung bekannt, mit dem er eng befreundet war.
„Seine Vitalität war einschüchternd, wenn er lachte, platzte ihm fast der Kopf, er war ein Berserker und zugleich – auch in Dingen der Freundschaft – der zarteste Impressionist” (Roger Willemsen).
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Youtube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Ein eigener Stil zwischen Bebop, Latin und Neapolitanischer Musik
Michel bezeichnete das Klavierspiel als „Kombination aus Gesang und Perkussion.“ Sein Humor prägte auch seine Musik, die bei aller Schönheit, Energie und Präzision auch einen gewissen Witz ausstrahlte. Vielleicht vergleichbar mit Frank Zappa, dessen Musik auch von Ironie geprägt war. Sein Klavierspiel zitiert die Klassiker wie Duke Ellington, Thelonious Mona und Oscar Peterson, mischt hie und da Free Jazz Elemente und Latin Grooves und bleibt dabei stets leicht, klar und verständlich, was er selbst mit seiner neapolitanischen Herkunft erklärte und der Bedeutung des Gesangs in seiner Heimat.
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Youtube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Stilistisch sah er sich zwischen Klassik und Jazz:
„Jazz ist eine afroamerikanische Kunstform und ich bin ein Europäer mit all den klassischen Einflüssen; aber ich will das Ganze nicht ideologisieren. Ich bin ein Kind dieser Welt. Ich lebe in Amerika, in Paris und auf Reisen. Ich versuche, das Beste zu übernehmen und das Beste zu geben. Mir gefällt klassische Musik, aber eben nicht alles, weil ich nicht alles verstehe. Das ist im Jazz genauso. Ich bin kein Sektierer, der nur einen Stil akzeptiert. Ich mag Musik mit einem großen M.“ (Quelle: https://www.jazzzeitung.de/jazz/2002/12/portrait-petrucciani.shtml)
Petrucciani entwickelte zwangsläufig seine eigene Technik. Um höhere Töne überhaupt zu erreichen, streckte er den ganzen Oberkörper zur Seite, näherte er sich wieder den mittleren Lagen, ließ er den Körper oft plötzlich auf den Klavierhocker plumpsen, während die Hände in gewohnter Spritzigkeit einfach weiterspielten. Klavierspielen als körperliche Grenzerfahrung.
Seine Soli waren geprägt durch einen perkussiven und markanten Stil. Im folgenden Clip spielt er einen ganzen Chorus lang Achtel auf dem Grundton: 50 Sekunden lang ein C. Und es groovt, wie man es noch selten zuvor gehört hat. (Wer vorspulen möchte: Sein Solo beginnt bei 2:18, die C-Staccato-Phase bei 3:10.)
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Youtube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Der Rausch des Lebens
In der allgemeinen Wahrnehmung stand Petrucciani stets etwas im Schatten der großen Namen wie Keith Jarrett, Chick Corea oder Herbie Hancock, was auch mit seinem Alter zusammenhängen mag, war er ja gute zwanzig Jahre jünger und betrat die große Bühne zu einer Zeit, als die anderen schon lange etabliert waren. Im Gegensatz zu vielen Musikern war Michel Petrucciani ein nahbarer Künstler, jemand, mit dem man einfach Spaß haben konnte. Kein abgehobener, zurückgezogener Intellektueller wie Keith Jarrett, kein Scientologe wie Chick Corea, kein Exzentriker wie Miles Davis. Sondern der nette und unkomplizierte Kerl von nebenan, der auch kein Problem damit hatte, direkt vor dem Konzert ein Interview zu geben, statt sich in Ruhe auf den Auftritt zu konzentrieren. Bis zum Schluss sei er immer sehr aufgeregt gewesen vor den Konzerten. Auf sein Lampenfieber angesprochen, meinte er nur: „I hate it.“
Er war beseelt von seiner Kunst und liebte es, im Rausch zu arbeiten. „I like to work in a hurry.“ So habe er oft erst ein paar Wochen vor den Aufnahmen begonnen, neue Stücke zu schreiben. „If I have too much time, I’m not as excited.“ Eine geplante Prokrastination, um in die richtige Arbeitsstimmung zu kommen. Meistens komponierte er direkt für die Musiker, die ihn auf seinen Aufnahmen begleiten würden. Erst stellte er die Band zusammen, danach kümmerte er sich um die passende Musik. Nach wenigen Proben gingen sie ins Studio und danach auf Tour: „While we tour, after a year, I want to erase the record and do another one, because it’s ten times better.”
Besonders wohl fühlte er sich bei Solokonzerten: „Allein am Klavier gehört dir die ganze Welt.“ Und die Welt hörte ihm zu. In den 90er-Jahren spielte er mindestens 100 Konzerte pro Jahr, in seinem letzten Lebensjahr waren es 140. Oft begleitet von Standing-Ovations. Und seinen permanenten Schmerzen, die er sich aber nie anmerken ließ. „Ich glaube, dass das Leben wert ist, gelebt zu werden.“ Schmerzen betäubte er mit Euphorie. Die Krücken konnte er damals nicht mehr nutzen, er war auf einen Rollstuhl angewiesen, doch schien ihn seine Krankheit nie sonderlich zu beschäftigen. Mitleid hat ihn nicht interessiert. Und wahrscheinlich wäre es besser, sein Oeuvre ganz unabhängig von seiner Biographie zu betrachten. Beim Hören käme man niemals auf die Idee, dass hier jemand unter erschwerten Bedingungen die Tasten drückt. Michels Hände fliegen förmlich über die Klaviatur. Er spielte perlige Läufe mit unglaublicher Leichtigkeit, groovte wie kein Zweiter und beherrschte auch die zarten Töne mit gefühlvollen Balladen.
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Youtube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Im Dokumentarfilm Leben gegen die Zeit von Michael Radford erzählt Petrucciani, wie er als Kind bei einer Probe seines Vaters das Gleichgewicht verlor, auf sein Gesicht fiel und sich die Nase blutig schlug. Der entsetzte Vater legte sofort die Gitarre zur Seite und eilte zu ihm hin, doch der kleine Michel jubelte nur: “Spielt weiter, spielt weiter!” Die Musik war wichtiger als alles andere und Petrucciani wollte keine Zeit verlieren. Er war ein Lebemann und liebte Frauen, Champagner, Kaviar und Kokain. Und natürlich das Klavier. Dass seine Lebenserwartung nicht die höchste sein würde, war ihm bewusst. In einem Interview mit Roger Willemsen sprach er offen über den Tod und dass er sich vor ihm fürchte. Und zwar nicht vor dem Leiden, da er ohnehin die ganze Zeit Schmerzen hätte. “I’m used to have hurt arms […] it’s not very important.” Er glaube an eine höhere Kraft, weil es viele Dinge gebe, die er nicht erklären könne. “I don’t know anything, so I’m scared because I don’t know what to expect.”
Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von Youtube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.
Am 6. Januar 1999 starb Michel Petrucciani in New York an einer Lungenentzündung. Sein Grab liegt in Paris auf dem Friedhof Père Lachaise.
Und wieder hat der Überschriftenbre ins Klo gegriffen. Da könnte man doch mal ansetzten. 😎
@BÄM Das ist ohne Frage eine außergewöhnliche Leistung. Die Ehrung für diesen Mann wäre allerdings größer, wenn nicht ein blödes Wortspiel in der Überschrift stünde, das seine körperliche Einschränkung betont.
(Hier endet mein Versuch, die Kritik an der problematischen Sprache zu erklären.)
Leute, im Ernst? Das Jahr 1960 hat angerufen und will seine Humor zurück.
Vielleicht (hoffentlich) war das nicht diskriminierend gemeint, aber der Weg zur Hölle ist gepflastert mit guten Vorsätzen. Die Überschrift geht gar nicht: „Kleiner Mann“? Wie kann das nicht herabwürdigend sein?
@Septimon Wenn exakt bei kleiner Mann aufhört zu lesen, dann kriegt man nicht mehr mit, dass die Überschrift in Wirklichkeit eine Verneigung ist. Aber lieber erstmal aufregen. Mannmannmann…
@Nik Elektrik Eine Verneigung betont nicht in den ersten beiden Worten der Überschrift die Behinderung eines Menschen. Zu sagen, der Mann konnte unglaublich spielen, „obwohl er kleinwüchsig war“ (und das suggeriert die Überschrift leider), ist keine Ehrung, sondern herablassend, ist das so schwer zu verstehen?
@Septimon Kleinwüchsig als Behinderung aufzufassen ist herablassend.
@Septimon Ja, sehr schwer zu verstehen. Eine geringe Körpergröße erschwert das Spiel. Es trotzdem zu Weltruhm zu bringen, ist eine wirklich außerordentliche Leistung, die doch eine Würdigung wert ist. Genau das zu verschweigen finde ich gelinde gesagt viel, viel schlimmer.
@Nik Elektrik Das ist ohne Frage eine außergewöhnliche Leistung. Die Ehrung für diesen Mann wäre allerdings größer, wenn nicht ein blödes Wortspiel in der Überschrift stünde, das seine körperliche Einschränkung an die allererste Stelle setzt.
Es gibt ja noch etwas zwischen „verschweigen“ (absurder Gedanke) und in der Überschrift ein Wortspiel damit machen.
(Hier endet mein Versuch, die Kritik an der problematischen Sprache zu erklären.)
@Septimon Agree to disagree.
@Septimon Du hast Deine Meinung und andere haben andere…..
Ist das so schwer zu verstehen?
Vielen Dank dafür, dass hier an diesen großartigen Pianisten erinnert wird. Ich habe alle seine CDs und höre sie noch immer regelmäßig. Seine Musik gewinnt noch immer neue Fans und macht ihn unsterblich.
Ja, ein ganz Großer! Und sein Humor findet sich auch in seinem Spiel wieder, was ihn mir sehr sympathisch macht. Ich mag besonders seine Live-Aufnahme „Solo Live“ aus Frankfurt. Leider klingt der Flügel bei dieser Aufnahme ziemlich gräuslich (die remastered Version ist etwas besser).
So kann man auch mal daneben liegen mit einem Titel. Nur kurz zur Klarstellung: die Überschrift war als Verneigung und mit größtem Respekt gemeint. Wie der ganze Artikel selbst natürlich auch.
@Martin Andersson War vollkommen ok wie es da stand Martin. Aber um Diskussionen abseits von deiner tollen Geschichte zu vermeiden, habe ich die Headline geändert :)
Super Story, vielen Dank! Hab schon viel zu lange nicht mehr seine tolle Musik gehört!
Danke für die Story. Ein begnadeter Musiker und Mensch!
Hut ab! ich bewundere Ihn seit Ewigkeiten. Mein Vorbild.
Auch ich bekam als Kind ein Instrument. Aber man muß halt den Ehrgeiz eines Michel haben damit man groß rauskommt.
Umso genialer wenn man körperlich benachteiligt ist. Und wir sogenannte Gesunde jammern herum wegen jeden Bullshit. DAS ist krank.
Du willst es? Mach es und hör auf zu jammern. Der Rest wird sich dann schon finden.