Ein Floorboard mit 100 Watt!
Ich gebe zu, ich war skeptisch, als mich der Testauftrag für den in China gefertigten BluGuitar Amp1 Mercury Edition ereilte. Vor meinem geistigen Auge erschien ein Amp mit unzähligen Strat Sounds in Clean, mehr Clean, weniger Clean, Blues Clean, American Clean, British Clean, schlag-mich-tot Clean und bei Bedarf einen Hauch von Crunch, garniert mit saturiertem cleanen Basic-Sound, ganz so wie Firmeninhaber Thomas Blug sich primär nach außen hin gibt. Lead- oder gar High-Gain-Sounds in einem Amp, der seine Handschrift trägt? Im Leben nicht. Da sieht man wieder mal, dass man auch als alter Hase immer offen an ein Produkt herangehen sollte, sonst läuft man Gefahr, Verstärker und Entwickler Unrecht zu tun. Also ran an die Buletten!
BluGuitar Amp1 Mercury Edition – Facts & Features
Als echter Working Musician hat Thomas Blug ja nun auch einige Dekaden auf dem Buckel und mitbekommen, dass Wunsch und Wirklichkeit im Live-Profigeschäft des Öfteren diametral auseinanderklaffen. Das Wunschdenken, was sich in fetten Half- bzw. Fullstacks möglichst nur für einen Sound widerspiegelt, um für den nächsten Sound per A/B/C-Schalter einfach zum nächsten Stack umzuschalten, lässt sich gerade mal in der Superstarliga mit entsprechendem Transport- und Techniker-Budget halten.
Die Realität sieht vielmehr so aus, dass nicht nur ein Amp alle benötigten Sounds erzeugen muss, sondern dieser am besten noch die Abmessungen von vier Kartenspielen haben soll, um ihn im Reisekoffer oder aber in einem Rucksack zwecks Anreise mit der Bahn oder per Flugzeug ohne Zusatzgepäckbuchung zu transportieren. Amps im Flightcase, womöglich noch mit Boxen vorab per Fracht zur Show schicken und dort von den Technikern abholen lassen? Nur möglich, wenn du Geld zur Show mitbringen willst und nicht welches verdienen möchtest.
Entsprechend haben Klein- und Kleinstverstärker zurzeit Hochkonjunktur. Gerne auch auf dem Floorboard positioniert, können solche Amps oder auch Preamp/Endstufen-Systeme in Kombination mit dem persönlichen Effektpedal-Park ein mit minimalen Abmessungen versehenes Soundboard kreieren, was zur Not auch den Ansprüchen des ÖPNV standhält. OK, eine Box muss noch vor Ort organisiert oder gemietet werden.
Die Kunst liegt nun darin, alles klanglich Wichtige räumlich auf ein Minimum einzudampfen und die daraus resultierenden klanglichen Einbußen so gering wie möglich zu halten. Dass dies mit einer Röhrenendstufe nicht umsetzbar ist, erklärt sich von selbst, allerdings benutzt der der Amp1 Mercury Edition eine Nanoröhre in der Treiberstufe, welche laut Auskunft des Herstellers in dieser Form bisher noch nie in einem Verstärker zum Einsatz kam. Laut Hersteller handelt es sich um eine russische Entwicklung, die stabiler, viel kleiner und deutlich langlebiger als die handelsübliche ECC83 / 12AX7 zu Werke geht und nur deshalb nicht zum Mainstream wurde, da die Veröffentlichung in eine Zeit fiel, als die größeren Kollegen den Markt bereits fest in den Händen hielten.
Die Konstruktion des BluGuitar Amp1 Mercury Edition
Der BluGuitar Amp1 Mercury Edition Gitarrenverstärker ist ein vierkanaliger Verstärker, wobei die Werkseinstellung zunächst den Wechsel zwischen einem cleanen und einem verzerrten Sound plus Boot Funktion und Reverb offeriert. Über das Laden des Preset Mode plus eines zusätzlichen Fußschalters, oder aber über die entsprechend MIDI Optionen, kann man aber auch alle vier Kanäle per Fuß abrufen. Die Belegungen der Fußschalter können dabei individuell gestaltet werden. Der Amp wurde als Bodenpedal konzipiert, leistet 100 Watt und ist mit den Abmessungen von 245 x 192 x 68 mm bei einem Gewicht von nur 1,2 kg als sehr handlich zu bezeichnen.
Alle vier Kanäle teilen sich eine Dreiband-Klangregelung und einen Hall, der über einen dritten Fußschalter aktiviert werden kann. Auf der Stirnseite kann ein Kabel namens MIDI 1 angeschlossen werden, das die Adapterfunktion für das fünfpolige Standard-Kabel liefert. Zudem liegen hier Lautsprecherausgänge für 8 und 16 Ohm an, ein Recording-Out, der auch die Kopfhörerfunktion übernimmt, der Input für die Gitarre, der On/Off-Schalter und ein FX-Loop. Besagter Loop kann u. a. durch einen Druckschalter auf der Unterseite des Gehäuses zwischen dem Studiopegel +4 dB und dem Bodenpedalpegel -10dB umschalten, wobei dieser Schalter an Unübersichtlichkeit nicht zu überbieten ist. Der Platinenbauweise ist zu verdanken, dass der Schalter über 1 cm tief im Gehäuse verschwindet, nur mit einem Schraubendreher gedrückt wird und man zudem seinen Schaltzustand nicht sehen kann. Gute Funktion, grausige Detaillösung!
Sehr angenehm ist hingegen das Multispannungsnetzteil, dessen Kaltgerätebuchse sich ebenfalls auf der Rückseite befindet. Nicht nur dass man das Produkt mit dem passenden Netzkabel ohne Transformator weltweit betreiben kann, es gleicht auch Netzspannungseinbrüche oder -spitzen aus, wie sie gerne auch mal in einigen Ländern auftreten können.
Ein echtes Schmankerl hingegen findet man an der Seitenleiste des Verstärkers. Hier kann man zu jedem Sound, mit Ausnahme des Vintage Sounds, seine persönlichen Vorlieben in Sachen Tone, Boost und Volume einstellen. Zwar muss man aus Platzgründen mit sehr fummeligen Rändelschrauben vorlieb nehmen, aber einmal eingestellt wird man die Grundeinstellung wohl nur selten ändern. Des Weiteren kann man beim Effektweg zwischen parallelem und seriellem Betrieb wählen und zwei Presets (Hard/Soft) im Noisegate-Betrieb festlegen. Eine stufenlose Einstellung im Noisegate-Betrieb gibt es nicht.
Der BluGuitar Amp1 Mercury Edition in der Praxis
Die Inbetriebnahme des BluGuitar Amp1 Mercury Edition Gitarrenverstärker gestaltet sich erwartungsgemäß extrem entspannend. Boxenkabel rein, Netzkabel rein, Gitarrenkabel rein, fertig. Fangen wir doch mal mit dem cleanen Kanal an. Ich persönlich bin ein großer Fan von cleanen Sounds, die einen leichten Hauch von Schmutz mit sich bringen. Mit cleanen Sounds der gitarrenverachteten Achtziger-Pop Ära im Sinne von Strat in PU-Schalter 4 direkt ins Pult, kann man mich schreiend aus dem Raum jagen. Dies ist beim Amp1 Mercury Edition glücklicherweise nicht der Fall. Der Kanal hängt schön am Volume-Regler der Gitarre und reagiert auf kräftige Attacks mit leichtem Anzerren. Die verwendeten EMG-Pickups sorgen dafür, dass man schon fast von dezentem Crunch sprechen kann, bei passiven PUs wird der Verzerrungsgrad definitiv geringer ausfallen.
Im Vintage-Bereich legt der Amp deutlich mehr Fokus auf den Höhenbereich, ohne dass es zu beißend wird. Der Versuch, die meist knackig resonierenden Vintage-Vertreter einzufangen, gelingt vom Ansatz her sehr gut, wenngleich die Klangregelung einen Punkt offeriert, der sich in allen Sounds fortsetzen soll. Der BluGuitar Amp1 Mercury Edition verfügt nur über einen sehr geringen Bassanteil. Bei allen Soundfiles stand der Regler auf Vollanschlag und ließ dennoch nur einen kleinen Bereich für den Basshub übrig.
Der Classic-Bereich setzt in Sachen Gain und Biss deutlich einen oben drauf. Hier beginnt der Bereich, den ich vom BluGuitar Amp1 Mercury Edition nicht erwartet hätte und ich muss sagen, er meistert diesen Bereich souverän. Hier werden alle Schattierungen des Rock bis hin zum kräftigen Hardrock abgedeckt mit starken Leads, die in ihrer „Cremigkeit“ über den Boost-Schalter individuell eingestellt werden können. Meines Erachtens der stärkste Kanal des BluGuitar Amp1 Mercury Edition.
Modern begibt sich dann endgültig in den High-Gain-Bereich, der zwar in Sachen Gain und Aggressivität durchaus den Kunden bedient, allerdings kommt hier die Bassschwäche des BluGuitar Amp1 Mercury Edition am stärksten zum Tragen. Selbst ein Drop-D-Tuning kann den Amp nicht zum typischen Hub animieren, geschweige denn zu einem klassischen Scoop-Sound, nachdem moderne Metal-Sounds verlangen. Der Sound ist nicht schlecht, stinkt aber gegen seine Vorreiter etwas ab und muss mehr als stabiles Extra in der Klangvielfalt, denn als tragende Säule im Grundsound verstanden werden.
Im Gesamtkontext muss man dem BluGuitar Amp1 Mercury Edition hingegen eine wirklich sehr gute und vor allem praxisnahe Beurteilung ausstellen. Der Amp besticht durch fantastische Abmessungen, einem geradezu lächerlichen Gewicht und vier guten bis sehr guten Sounds, die ein sehr großes Spektrum an geforderten Gitarrensounds abdecken. Die Handhabung ist einfach, das persönliche Tunen der jeweiligen Sounds flexibel und die Transportabilität der Traum eines jeden professionellen Working Musician.
Die Sounds wurden mit einer Fame Forum IV Ironfinger, einer Marshall 412 Box mit G12-65 Watt Speakern und einem SM 57 aufgenommen.
Gibt es hier eine Weiterentwicklung zu dem gut abgehangenen Hughes&Kettner Tubemman ?
Oder ähnlichen circa 30 Jahre alten Geräten die sich heute für ein paar Euro im Setup integrieren lassen?
Ist keine Provokation, würde mich nur als ehrliche Einschätzung von dir als alten Hasen interessieren.
@Guernica So sehr ich den alten Tubeman auch schätze (ich besitze selber noch einen), der Leistungsumfang kann mit dem Amp1 nicht mithalten. Immerhin handelt es sich bei dem Amp1 um einen vollwertigen Verstärker, der Tubeman hingegen war „nur“ ein Röhrenverzerrer mit 4 Presets.
Keine mit dem Fuß umschaltbaren Sounds, kein MIDI, kein Reverb, kein FX-Loop, keine Endstufe und soundlich dem Amp1 auch deutlich unterlegen. Außerdem müssen bei dem Tubeman fast alle Poties nach dieser Zeit gewechselt / behandelt werden, die waren extrem anfällig für Verschmutzung und kratzten / hakten bereits nach kurzer Zeit.
Inwieweit sich ein vorab gewählter Sound z. B. per Looper in ein Setup sinnvoll integrieren lässt, muss jeder selber entscheiden.
Hi Axel,
ok, stimmt schon. Danke für die knackige Zusammenfassung.
Aus dem Artikel: „Ich gebe zu, ich war skeptisch, als mich der Testauftrag für den in China gefertigten BluGuitar Amp1 Mercury Edition ereilte.“
Was haben manche Leute nur immer für Probleme mit Waren, die in China hergestellt werden? Wieso spielt es eine Rolle, ob der Mensch, der ein Gerät zusammenbaut einen chinesischen oder einen deutschen Pass hat? In meiner Naivität habe ich angenommen, diese Zeiten seien endlich vorbei.
@Ted, du hast den Satz falsch verstanden! Die Skepsis bezieht sich nicht auf den Ort der Fertigung, sondern auf den im nachfolgenden Satz erläuterten Ansatz im Bezug auf die zu erwartende klangliche Ausrichtung.
Das Made In China wird nur erwähnt, um dem User ein Verhältnis zum Ladenpreis zu geben, da in Europa, insbesondere in Deutschland gefertigte Produkte mit um ein vielfaches höheren Lohnnebenkosten kalkulieren müssen.
Toller Bericht… vielen Dank dafür….