Eigentlich wollte ich Profimusiker werden.
Januar 2013, Los Angeles. Es ist kalt, es regnet – und eigentlich passt das Wetter so gar nicht zum sonnigen Kalifornien. Umso mehr freuten wir uns über das ewig sonnige Gemüt unseres Gesprächspartners Christoph Kemper, Erfinder des berühmten ACCESS VIRUS, der aktuell auch durch den erfolgreichen KEMPER AMP auch bei Gitarristen zu Ruhm und Ehre gekommen ist.
Es war 1997, als ich Christoph Kemper das erste Mal begegnete. Es war während der Musikmesse auf dem Waldorf-Stand, wo mir Wolfgang Düren (damaliger Waldorf Geschäftsführer) einen jungen Synthesizer-Enthusiasten vorstellte, der mir voller Begeisterung einen kleinen roten Synthesizer zeigte. Es war der erste Prototyp des ACCESS VIRUS – und damals konnte noch keiner ahnen, dass dieser Virus schon bald seinen Siegeszug um die Welt antreten würde, um Musiker auf dem ganzen Erdball zu infizieren.
Und wie immer in unseren Interviews, wollen wir auch diesmal hinter die Kulissen blicken und versprechen eine hoch interessante und unterhaltsame Story über die Geschichte eines Menschen, der doch eigentlich Profimusiker werden wollte.
AMAZONA.de:
Endlich haben wir beide es mal geschafft. Da liegt LA für ein persönliches Interview dann doch näher als Frankfurt. (schmunzelt)
Christoph:
Ja, tut mir echt leid, ich hab das dieses Jahr einfach nicht geschafft. Ich musste das immer wieder schieben. Sorry, aber wir sind gerade umgezogen und haben Zwillinge bekommen und haben ziemlich viel gearbeitet, um in den Gitarren-Markt reinzukommen.
AMAZONA.de:
Kein Problem!
Bei Deinen Kunden bist Du eher eine unbekannte Persönlichkeit. Jeder kennt Bob Moog, viele Dave Smith, aber Christoph Kemper ist in der Öffentlichkeit eher ein unbeschriebenes Blatt. Du hast Dich immer gut im Hintergrund gehalten. Das fanden wir spannend, deshalb freuen wir uns besonders, Dich live interviewen zu dürfen.
Christoph:
Ach, eigentlich kennen mich viele unserer Kunden trotzdem ganz gut. Glaubt mir, die wissen schon, wer ich bin. Als wir den „Kemper Profiling Amp“ auf den Markt brachten, ergab eine Umfrage, dass viele, die sich diesen Gitarrenverstärker kauften, wussten, dass wir vom ACCESS VIRUS kamen. Denen war schon immer klar, dass ich dahinter stehe, und ich rede jetzt nur von Gitarristen. Eigentlich dürften das ja noch weniger wissen als unter Keyboardern.
AMAZONA.de:
Lass uns mal ganz zum Anfang gehen, wie kam es überhaupt dazu, dass Du zur Musik gekommen bist und dann schließlich selbst Musikinstrumente produziertest?
Christoph:
Eigentlich wollte ich immer Profimusiker werden. Ich war ganz gut als Keyboarder, hatte aber die Technik immer im Hinterkopf. Mit 14 Jahren hatte ich einen Skiunfall und war für eine Zeit gezwungen, das Haus nicht mehr zu verlassen. Ich bekam von meinen Eltern einen Elektronik-Baukasten von Phillips geschenkt. Damit habe ich mich dann viel beschäftigt. Weihnachten darauf wünschte ich mir dazu zwei Erweiterungen. Ich hatte wirklich sehr viel Spaß damit und ungefähr zur gleichen Zeit kam diese Welle mit den Commodore C64. Aber mein Physiklehrer war kein Fan des C64 sondern hatte einen Sinclair ZX Spektrum.
Auch den habe ich dann von meinen Eltern bekommen, ich glaube der hat damals 500 Mark gekostet. Von da ab saß ich den ganzen Tag vor dem elterlichen Fernseher im Wohnzimmer, immer im Schneidersitz, bis mir der Rücken weh tat.
Den Sinclair konnte man eigentlich nur in Basic programmieren, was einfach total lahm war, oder direkt in Maschinensprache in Assembler Code. Ich entschied mich für Maschinensprache – und dabei bin ich übrigens bis heute geblieben.
AMAZONA.de:
Hast Du Dir Maschinensprache selbst beigebracht?
Christoph:
Ja, ich hatte über meinen Physiklehrer ein Buch gekauft, eine dicke Schwarte über den Z80, ein damals sehr bekannter Mikroprozessor von einer Firma, die später aber den Anschluss verpasst hat. Die hätten richtig groß werden können wie Intel oder Motorola. Jedenfalls habe ich dieses Buch komplett durchgearbeitet.
AMAZONA.de:
Warst Du damals auch schon Musiker?
Christoph:
Ja, ich hatte zu der Zeit schon Klavierunterricht. Ich stamme aus einer sehr musikalischen Familie aus Recklinghausen. Mein Großvater war Musikschuldirektor, meine Großmutter war eine sehr bekannte Gesangslehrerin, obwohl sie selbst – wie man erzählte – nicht so schön gesungen hat. Mein Onkel war Musikprofessor und mein Vater spielte Cello. Also kurz und gut, bei uns hat jeder ein Instrument gespielt.
Zu Hause stand das geerbte Klavier und eines Tages auch ein Klavierlehrer in der Tür. Meine Schwester und ich wurden gar nicht gefragt, ob wir Klavier spielen wollten, das war einfach eine Selbstverständlichkeit und gehörte bei uns einfach dazu. Da war ich ungefähr 10 Jahre alt. Meine Mutter kaufte eines Tages ein Boogie-Woogie-Notenbuch, der Klavierlehrer war begeistert und für mich war das ein wenig der Einstieg in die Rockmusik – oder zumindest weg von der Klassik.
AMAZONA.de:
Was ist aus der Programmiererei geworden?
Christoph:
Mir fiel eines Tages auf, dass ich auf dem Schulhof immer mit den uncoolen Typen zusammenstand, den peinlichen Computer-Nerds. Mental fühlte ich mich aber gar nicht dazu gehörig. Mir ging das sehr auf den Wecker, dass die coolen Jungs, vor allem aber die coolen Mädels, auf der anderen Seite des Pausenhofes standen. Eines Nachts entschloss ich mich, einen Schlussstrich zu ziehen und habe am nächsten Morgen den Computer mit allem Zubehör weggepackt. Diese Kiste liegt übrigens bis heute noch genau so am Dachboden bei meinen Eltern und wird sicher eines Tages wieder aufgemacht.
Der Schlüssel, um sozial wieder dazu zu gehören, war ganz klar die Rockmusik, wie bei so vielen anderen auch. Ich wollte also Synthesizer spielen. In Recklinghausen gab es einen Musikladen, ich glaube, der hieß „Wiesmann“, da standen überall Keyboards rum. Das war so ca. 1985.
AMAZONA.de:
Sicher waren Synthesizer damals nicht ganz billig?
Christoph:
Zu der Zeit war für mich der tollste Synthesizer, den es damals gab, der Korg Poly 800, für den stolzen Preis von 1.590,- DM. Ich stand sehr oft davor, die anderen Geräte habe ich mir gar nicht erst angekuckt, die waren „way off“, finanziell völlig unrealistisch! Leider überstieg der Preis für den Korg aber auch jedes elterliche Geburtstagsbudget.
Da hatte ich aber eine geniale Idee! Meine Schwester verlor genau zu dieser Zeit die Lust am Klavier spielen. Meine Eltern waren überzeugt, dass ihre Unlust am Musizieren nur daran lag, dass sie das falsche Instrument lernte. Und so wurde für sie eine Geige angeschafft, nicht die billigste, auch nicht die beste, aber eben gute Mittelklasse und Mittelklasse kostete damals 3.000,- Mark. Und in dieser Investition sah ich nun meine große Chance!
So ein Synthesizer war ja ein Mittelding, zum einen irgendwie ein Computer – also wieder so eine Nerd-Geschichte, zum anderen aber auch ein Musikinstrument.
Da bin ich zu meinem Papa gegangen und habe ihm gesagt: „Meine Schwester hat jetzt eine Geige für 3.000 Mark bekommen und Du weist genau, wo die in eineinhalb Jahren landet – irgendwo in der Ecke, das weist Du!“ Er hat mir nicht widersprochen. „Ich möchte einen Synthesizer haben, der kostet die Hälfte – es ist ein Musikinstrument – und Du weißt, dass alles, was ihr mir bisher gekauft habt, habe ich komplett durchgezogen und auseinandergenommen, bis Euch Angst und Bange wurde“ … und ihr wisst, ich hab’s auch wahr gemacht bei Synthesizern (lacht). Ich hatte ihnen damals nicht zu viel versprochen.
Eine Woche vor meinem 15. Geburtstag setzte er mich ins Auto und sagte nur „wir fahren jetzt irgendwo hin“. An dem Tag fuhr er mit mir in einen anderen Musikladen als sonst, das war der Musicstore „Hagen“. Ich glaube den gibt es auch noch.
Der Besitzer von dem Laden hat dann extra für uns rumtelefoniert, um den passenden Synthesizer für mich zu besorgen. Der Typ hat es dann echt geschafft, für den selben Preis einen gebrauchten DX9 zu organisieren. Der hätte damals neu 3.000 Mark gekostet.
AMAZONA.de
Also eigentlich nichts zum Auseinanderschrauben.
Christoph:
Es ging ja nicht ums Schrauben. Ich habe den Computer ja auch nicht auseinandergeschraubt, sondern programmiert. FM-Synthese war zu der Zeit der absolute Hit. Mit dem DX9 konnte ich nun selbst Klänge mit FM-Synthese programmieren und war glücklich, obwohl das Ding nur 4 Operatoren hatte und leider auch keine Anschlagdynamik.
AMAZONA.de:
Und konnte damit dann die Rock-Karriere starten?
Christoph:
In dieser Zeit, ca. 1988, bekam ich Anschluss zur coolsten Band in unserer Stadt, zu „Red Castle“, die machten Deutsch-Rock. Die Musik war nach dem Motto „Wenn alle Atomkraftwerke platzen, ich liebe Dich immer noch…“! Jetzt muss ich kurz kulturell werden. Die 80er Jahre waren für mich musikalisch eine recht arme Zeit. Eine deutsche Rock-Szene gab es nicht und die Neue Deutsche Welle war gerade abgesägt worden. Eigentlich gab es nur Grönemeyer und Westernhagen. Daran erinnert sich jeder noch.
AMAZONA.de:
Der Synclair Computer verstaubte auf dem Dachboden, Du machtest endlich Rock-Musik in der einer angesagten Band – aber eines Tages musst Du doch wieder den Weg in die Nerd-Ecke gefunden haben, oder?
Christoph:
Eigentlich stamme ich ja aus einer klassischen Akademiker-Familie. Meine Eltern waren beide Ärzte. Mein eigentliches Berufsziel war zunächst einmal Toningenieur, ich hatte aber bei diesem Berufsbild meine Zweifel, ob das musikalisch und kulturell für mich das Richtige wäre. Deshalb habe ich mich für die harte Schule entschieden und Elektrotechnik studiert.
AMAZONA.de:
Nachvollziehbar. Papa und Mama haben in „Rockmusiker“ sicher keinen „richtigen“ Beruf gesehen, da war der Elektro-Ingenieur schon etwas solideres.
Christoph:
Das Studium war nur als Backup gedacht, denn nach wie vor wollte ich Profimusiker werden.
AMAZONA.de:
Und hattest du damals als „Back-Up“ auch schon den Plan, selbst Musikinstrumente zu entwickeln?
Christoph:
Nein, überhaupt nicht. Ich wollte damals keinesfalls in die Musikinstrumenten-Industrie. Eigentlich träumte ich ja von einer Laufbahn als Musiker und wollte nicht „den Pinsel für den Maler herstellen“. Und die „Anderen“ stehen dann auf der Bühne wo ich eigentlich stehen wollte.
AMAZONA.de:
Na, der Plan ist ja super aufgegangen (lacht). Wie wir heute wissen, wurde es dann doch der Pinsel. Wie kam’s?
Christoph:
Das Studium zog sich in die Länge, diverse Urlaubssemester wurden eingelegt, in denen ich Musik machte. In der Zeit habe ich viel komponiert und produziert.
Gleichzeitig erkannte ich, dass in der technischen Schiene der Musik sehr viel sicherer Geld zu verdienen wäre als x-beliebiger Profi-Keyboarder, die es damals schon massenweise gab. Als Musiker konnte man nicht „das große Geld“ erwarten, dafür fehlten mir als Rockmusiker auch die Kontakte und Netzwerke in die Profi-Szene. Ich war auch mehr in der Rock-Ecke als in der Dance-Szene, leider. Ich hätte da schon wirklich gerne mehr gemacht. Aber ich bin mir sicher, ich hätte das irgendwie auch noch hingekriegt. Wenn ich mir heute ansehe, wer es damals als Profikeyboarder zu was gebracht hat, denk ich mir bei dem ein oder anderen, so gut wie der hätte ich das auch hingekriegt. Als Keyboarder oder Produzent wäre ich sicher ein zufriedener Mensch geworden – aber vielleicht bin ich jetzt noch zufriedener. (lacht)
AMAZONA.de:
Wie kam’s? Was wurde aus dem Studium?
Christoph:
Irgendwann machte mein Vater etwas Stress, weil er meine Musik nicht finanzieren wollte und machte Druck, damit ich das Studium abschloss. So schloss ich mein Studium ab und machte meinen Ingenieur.
In der Zeit kam auch die DSP-Programmierung auf und damit – sagen wir – die Demokratisierung der ganzen Technik. Es erleichterte es jedem Einzelnen in die Sache einzusteigen. Ganz unabhängig von seinem finanziellen Status oder sogar von seinem bisherigen Know How.
Seit den 80er Jahren beherrschten die japanischen Konzerne die Industrie. Wenn du so ein Projekt mit digitaler Technik starten wolltest, hatte das bis dahin eine unglaubliche Summe für Hardware gekostet, ohne Hardware ging gar nichts. Und das lohnte sich nur für etablierte Firmen. Von „Null“ anfangen, das ging zuvor einfach nicht. Aber plötzlich gab es den von Motorola den DSP der 56000er Serie, das änderte alles. Dieser DSP wird übrigens heute noch in vielen Produkten verwendet, z.B. auch in unseren Produkten. Er war aber auch Bestandteil der TDM-Systeme von Digidesign.
AMAZONA.de
Was waren die ersten Versuche, die ersten – nennen wir es mal Produkte – die du versucht hast selbst zu entwickeln, selbst zu programmieren?
Christoph:
Ich habe ich damals wie bekloppt versucht, einen Kompressor zu programmieren, das hat aber erst mal nicht geklappt. Einen Chorus und ein Echo hatte ich schon hinbekommen, das war relativ einfach und lief schon ganz gut.
Aber dann probierte ich mich an Filtern. Und die Programmierung von Filtern war mein erster großer Meilenstein, denn die Filter, die ich programmierte, waren extrem schnell modulierbar, wie bei echten Analogen. Das war für mich der mentale Durchbruch, denn ich hatte etwas programmiert, was es so bisher nicht zu kaufen gab.
Kein digitales Gerät hatte zu jener Zeit ein Low-Pass-Filter, das im Audiobereich modulierbar war. Ich selbst besaß einen Kurzweil 2000 mit DSP-Funktionen, ein bisschen semi-modular, aber der klang anders. Als ich diese Filter-Geschichte gemacht habe, war das plötzlich eine ganz andere Welt! Da dachte ich mir: „Jetzt hast du was programmiert und zum Einsatz gebracht, was man nicht kaufen kann, also mach doch einfach mal weiter.“
AMAZONA.de:
Von welchem Jahr sprechen wir da ungefähr?
Christoph:
Das war 1995. Zu der Zeit kam gerade der Nord Lead auf den Markt. Dieses Gerät von einer kleinen schwedischen Firma war wirklich DER Start der virtuell analogen Synthesizer. Der erste, der sich wirklich so nennen konnte und der erste Erfolgreiche, der nicht auf Samples basierte. Übrigens auch auf Basis dieses Motorola DSPs.
AMAZONA.de:
Und das hat Dir einen Kick gegeben?
Christoph:
Na klar. Es war also möglich – also sollte ich es auch können.
Da stand ich nun mit meinen Filtern und ergänzte die Filter nun um einen einfachen Oszillator, dann um einen zweiten, verstimmte beide gegeneinander – wunderbar. Dann packte ich noch einen Sägezahn-LFO drauf – und es klang richtig geil. Das war anfangs eigentlich ganz einfach zu programmieren. Da ich noch nichts über MIDI steuern konnte, musste ich das Programm jedesmal fertig machen und den Sound direkt aus dem Programm abfahren und danach wieder stoppen. Es klang hammermäßig, das machte richtig „bow bow bow“. Jeder Attack des LFO klang anders weil er ja ein freilaufender Oszillator war und damit erzeugte er genau das analoge Feeling. Was mein Kurzweil in der Qualität nicht konnte. Der hatte zwar auch Sägezahn-Oszillatoren integriert, welche frei liefen, aber die waren voll Aliasing. Das konntest du maximal bis zum mittleren C spielen, danach wurde es übel.
AMAZONA.de:
Software zu produzieren ist ja eine Sache, aber Dein Traum war ja, das Ganze in Hardware zu integrieren. Hast Du dann einen Kredit aufgenommen, um Deine erste Hardware zu finanzieren?
Christoph:
Ich hatte es eigentlich nicht für möglich gehalten, dass irgendwann daraus mal ein realer Hardwaresynthesizer werden würde. Ich wusste einfach, dass da noch so viel dazu gehört. Deshalb habe ich zunächst auch an Software gedacht. Ein kleines Kapitel dazu:
Ich habe meinen Synthesizer-Prototypen damals einer etablierten Softwareschmiede vorgestellt. Ich kannte einen der wichtigen Verantwortlichen der Firma und habe ihm das geschickt, aber der hat das nicht geschnallt. Das müsst ihr euch mal vorstellen, er hat mir damals erzählt, dass Hardware so teuer sei und sie hätten gerade für einen eigene Hardware 2.000 DM investieren müssen. Ich dachte mir nur: „Oh Gott, oh Gott“. Na jedenfalls, wären wir damals ins Geschäft gekommen, hätten wir gemeinsam ein TDM-System erstellen können, um damit Digidesign Konkurrenz zu machen.
AMAZONA.de
Es ist ja auch kein Geheimnis, dass der erste Virus dem Microwave II und dem Q von Waldorf das Wasser abgegraben hat. Und das hatte sicher damals nichts mit dem Marketing zu tun, denn all diese Geräte wurden über den selben Vertrieb in den Handel gebracht. Klang der Virus besser?
Christoph:
(schmunzelt nur)
AMAZONA.de:
Wie kam es dann nun zu dem ersten Virus-Prototypen?
Christoph:
Ich hatte ein Interview mit Guido Kirsch, meinem zukünftigen Kompagnon, in der Keys gelesen, der damals bereits die Firma „Access Midi Tools“ hatte. Wahrscheinlich so, wie nun auch manche dieses Interview hier lesen. Guido hatte zu der Zeit zwei erfolgreiche Hardware-Programmer entwickelt und vermarktet für den Oberheim Matrix 6 und die Waldorf Microwave Synthesizer.
AMAZONA.de:
Das ist jetzt eine Überraschung für mich. Du hattest also mit den beiden ACCESS Programmern gar nichts zu tun?
Christoph:
Nein, gar nichts. Ich habe später sogar dafür plädiert den Namen ACCESS nicht zu verwenden, da ich den Namen eigentlich nicht optimal fand.
AMAZONA.de:
Wenn Guido Kirsch damals schon so dick im Geschäft war, wieso hat er dich dann später als Partner in die Firma genommen?
Christoph:
Ich hatte also dieses Interview mit ihm in Keys gelesen. Er erzählte, was er in naher Zukunft so plante. Er wollte einen generischen Hardware-MIDI-Programmer bauen, der sich universell einsetzen lassen würde. Eigentlich eine tolle Idee. Als Techniker konnte man aber rauslesen, dass er eigentlich kein Techniker ist. Ich hatte auch tatsächlich Zweifel, ob er das Projekt mit dem generischen Programmer alleine stemmen könnte. Später stellte sich heraus, dass er zwar Technik-affin war, aber nicht wirklich Programmier-affin, das hat ihm eigentlich auch nicht so Spaß gemacht. Durch das Interview habe ich aber auch gesehen, dass dieser Typ bereits die komplette Hardware hat, mit Knöpfen, Holz an der Seite, MIDI – alles wunderbar. Dazu kam, dass er die Teile nicht nur produzierte, sondern auch verkaufte, das bedeutete, er hatte auch einen Vertrieb und wusste, wie man Produkte auf den Markt brachte. Aber wie gesagt, technisch war es eine Einbahnstraße.
Darin hab ich meine Chance gesehen, also habe ich ihn angerufen und ihm erzählt, dass ich einen Synthesizer hätte. Ich sagte ihm, er hätte alles, was ich brauchte und umgekehrt. Damit hätte er endlich nicht nur Zubehör, also die Controller, für andere Synthesizer, sondern seinen eigenen Synthesizer. Tja, und dann haben wir das gemeinsam gemacht.
AMAZONA.de:
Stand zu diesem Zeitpunkt schon fest, dass ihr gemeinsam eine Firma für die Produktion eines Synthesizer gründen würdet?
Christoph:
Nein, das stand da noch nicht fest. Erst zählte nur mal die Vision, einen eigenen Synthesizer zu verwirklichen. Wir hatten beide etwas Geld zusammengekratzt, ich kann mich erinnern, dass er sich Geld geliehen hatte und auch ich hatte ein paar Ersparnisse. Es ging um keine so große Summe, ungefähr 30.000 Mark hatten wir zusammengebracht, um eben eine ganz kleine Produktion anleiern zu können.
Die Vertriebsfirma TSI von Wolfgang Düren, der mit WALDORF auch den Microwave produzierte, nahm uns unter ihre Fittiche. Das war ein riesen Glück und im Laufe der Zeit haben Guido und ich uns entschlossen, ebenfalls eine eigene Firma zu gründen, die sich auf die Produktion von Synthesizern spezialisierte. Wir wussten, die Zukunft konnte nicht in dem Controller-Markt liegen. Das war dann die ACCESS MUSIC ELECTRONICS GMBH.
AMAZONA.de:
Ist Guido Kirsch heute noch bei Access?
Christoph:
Nein, Guido ist nicht mehr dabei. Er macht allerdings jetzt eine Rotary-Speaker-Simulation unter dem Namen Ventilator für seine Firma „Neo Instruments“. Und das Ding ist der Oberhammer. Wir haben im Kemper AMP ebenfalls eine Rotary-Speaker-Simulation, die wir mit dem Profiling erstellt haben – und als wir seine Simulation mit unserer verglichen haben, stellte ich fest, dass beide wirklich gleich klangen. Also das Teil ist wirklich sehr gut.
AMAZONA.de:
Weshalb hat Guido die Firma verlassen, wo doch Access so erfolgreich war?
Christoph:
Access hat sich seit Bestehen stark verändert. Musste man in den Anfangstagen nur ein paar Ingenieure unter einen Hut bringen, hat der Geschäftsführer heute die Aufgabe, von der Buchhaltung bis zum Einkauf, Vertrieb, Marketing und so weiter zu steuern und zu führen. Das ist nicht jedermanns Sache. Guido war ganz stark darin, die Kreativen hier zu dirigieren und zu motivieren, aber Vertrieb und Marketing lagen ihm weniger. Aber genau dieser Aufgabenbereich wuchs und wuchs … irgendwann zog er für sich daraus die Konsequenz und hat sein eigenes Ding gemacht.
AMAZONA.de:
Guido hat ja auch das Design des ersten Virus entworfen, korrekt?
Christoph:
Das Design lag schon in seinen Programmern vor. Wenn man sich die alten Programmer mal genau ansieht mit den Knöpfen, den Holzseitenteilen, der Pultform, dann sehen die fast aus wie Prototypen des ersten Virus.
AMAZONA.de:
Später seid ihr dann zu Axel Hartmann gewechselt, der auch für Waldorf und viele andere Synthesizer-Schmieden Hardware gestaltet. Wie kam es dazu? Ich meine, Audi und BMW haben ja auch nicht den selben Chefdesigner?
Christoph:
Bertone und Pininfarina haben für die verschiedensten Automobilhersteller gearbeitet. So arbeitet auch Axel Hartmann mit verschiedenen Firmen der Musikinstrumenten-Industrie.
AMAZONA.de:
Und wie kam es zu dem Namen Virus?
Christoph:
Guido Kirsch wünschte sich einen Namen, wo das Wort „virtuell“ anklingt. Er schlug das Wörterbuch bei „Vi“ auf. Da kommt man schnell auf Virus. Es gab im Nachgang einige Diskussionen, ob der Name „Virus“ politisch korrekt ist, das war eine amüsante Zeit.
Super Interview! Und seit ich zum ersten mal vom Kemper Profiler gehört habe wollte ich auch sowas – aber natürliuch für Synths bzw deren Oberton- und Distortionverhalten. Oder eine Version mit der man nicht nur Sounds sondern auch Styles profilen kann. Als Dub Fan würde ich sofort die klassischen Riddim Sections wie Sly & Robiie profilen… Wenn ich dann noch Sounds vom Original aus in verschiedene Richtungen tweaken könnte wie „mehr rubber“, „mehr metallisch“, „mehr hölzern“ usw das wäre dann schon eine magic box;)
In der Keyboards (oder Sound & Recording) gab es damals auch schon ein Interview mit ihm und einigen anderen Access-Leuten, wo man auch einiges zu der Entstehungsgeschichte des Virus lesen konnte. Ich glaube es war damals 10 jähriges Virus-Jubiläum. Trotzdem fand ich dieses Interview hier super spannend, da man hier viel mehr über den Werdegang von Christoph Kemper erfahren kann. Es ist immer wieder faszinierend, auf welchen „Umwegen“ die allermeisten größeren / erfolgreichen Personen dahin gekommen sind, wo sie jetzt sind. Jedenfalls kann ich schon jetzt kaum bis morgen früh abwarten, um den 2. Teil davon zu lesen!
Hatte letztens erst ein paar Jungs von Kemper-Music hier im Apple-Laden. Aussergewöhnlich nette Menschen. Wir haben ein wenig über (Analoge-) Synthesizer gequatscht, gute GUIs, und natürlich unsere Vorlieben für Holz-Applikationen an elektronischen Instrumenten …
:-)
Ich bin relativ spät zu einem Virus A gekommen, vor ein paar Jahren, frühmorgens beim Joggen am Wiener Naschmarkt und für sehr wenig Geld. Der Virus A hat noch durch die Verwendung von Standard-Tastern und dem access-Controllergehäuse noch ein gewisses DIY-Appeal, ist aber bestens verarbeitet. Mein Virus funktioniert wie am ersten Tag.
Zumindest mit der letztständigen Software hat der Synthesizer Funktionen, die manche VA-Konkurrenten und Workstations bis heute nicht zu bieten haben, z.B. die gleichzeitige Anzeige eines Parameters vor der Änderung UND den aktuellen Wert, eine ordentliche Parameterglättung etc. Die Bedienoberfläche ist auch aus heutiger Sichtweise komfortabel, durchdacht und „komplett“.
Natürlich klingt der Virus A wie alle Viren nicht besonders analog, aber er hat bei seinem Erscheinen den Standard für „virtuell analogen“ Sound definiert, den „analoger“, aber auch weniger speziell klingenden, Nord Lead 1/2/3 auf Lebzeiten abgehängt und ist als VA Hardware-Synthesizer m.E. bis heute unerreicht. Selbst „Goodies“, wie etwa die Sättigungs- und Verzerrungseffekte, klingen schon im Virus A sehr gut und sind von hohem Nutzwert.
Der Virus erfüllt in allen Evolutionsstufen die Kriterien, die einen richtig guten Synthesizer ausmachen. Er ist gut gestaltet und verarbeitet (die Tastaturversionen sind erste Sahne), klingt sehr gut (oder polarisierend) und bis heute trotz zahlloser Hard- und Software Konkurrenten charakteristisch (ab und an auch abgenudelt), und er hat sich weltweit als Produktionsstandard etabliert.
Wenn man all dies berücksichtigt, ist der Virus sicher nicht der originellste, aber vermutlich „wichtigste“ Synthesizer aus deutschen Landen aller Zeiten.