Der photoptische Synthesizer
Alexander Zolotov führt mit Virtual ANS 3 nun seinen photooptischen Synthesizer in die nächste iPad-Ära. Version 2 kam für iOS erstmals 2013 als Standalone-App heraus und entwickelte sich bis 2.2b permanent weiter. Mit dem neuen ANS 3, der als separater Kauf erhältlich ist, macht Zolotov die App nun AUv3-fähig, was Grund genug ist, endlich mal einen Test zu liefern.
ANS 3 gibt es im Übrigen für iOS, Android und als Donation-Ware sind die Versionen für macOS, Windows und Linux gegen Spende auf der Homepage von Alexander zu haben.
Die Geschichte hinter dieser App ist lang und das Ergebnis ist ein de facto Unikum, in der ebenfalls langen Geschichte des Synthesizers.
Yevgeny Murzin
Zwischen den Jahren 1938 bis 1958 entwickelte der Russe Yevgeny Murzin (engl: Evgeny Murzin), der gleichermaßen von Militärtechnik wie visionären Musikvorstellungen beeinflusst war, einen der ersten spielbaren Synthesizer, den A.N.S.. Zuerst vor den Behörden geheimgehalten, wurde der ANS in der Zeit des Space-Race zum Mond dann doch noch ein anerkanntes Vorzeigeobjekt.
Das erste und einzige Gerät des ANS steht heute im Glinka Museum in Moskau. Den Höhepunkt seines Ruhms erlangte der Synthesizer wohl mit der Produktion der Soundtracks zu den Filmen Solaris, Der Spiegel und Stalker von Regisseur Andrei Tarkovsky.
ANS – Alexander Nikolayevich Scriabin
Um zu verstehen, warum das ANS existiert, ist ein weiteres Abtauchen in die Geschichte notwendig. Die Abkürzung ANS kommt nämlich von dem russischen Komponisten Alexander Nikolayevich Scriabin (1871 bis 1915). Scriabin wird als außergewöhnlich guter Pianist mit philosophischen Neigungen beschrieben, der mit seiner sogenannten „Klangzentrumstechnik“ einen Vorläufer der Zwölftonmusik darlegte. Außerdem war er Synästhet, konnte also „Töne sehen und Farben hören“.
Als er aufgrund der Erkrankung seiner rechten Hand durch Überbeanspruchung 1893 von Glauben und Religion abfiel, wurde er Mystiker und entwickelte bis zum Ende seines Lebens die Theorie und Aufführung eines „multimedialen Mysteriums“, das alle Sinne gleichzeitig (Wort, Ton, Farbe, Duft, Berührungen etc) ansprechen sollte und damit schließlich durch eine permanente Massenaufführung in Indien die Menschheit auf eine höhere Bewusstseinsstufe erheben sollte. Aber wo Erhebung ist, ist üblicherweise die Verklärung nicht weit und die Enttäuschung schließlich groß.
Wie dem auch sei, Scriabin letztes vollendetes Orchesterwerk „Prométhée. Le Poème du feu“ sah eine Stimme speziell für ein „Farbklavier“ vor, das es noch zu erfinden galt. Ein von dem Moskauer Chemiker Alexander Moser konstruietes Modell wurde anscheinend noch für eine Privataufführung gefertigt, aber zu mehr kam es dann nicht mehr, bevor Scriabin 1915 verstarb und nur sein „Manifest“ und einige musikalische Bruchstücke hinterließ, die ihn aber unter die wichtigen Neuerern der Musik vor Beginn des 1. Weltkriegs einreihen.
Der ANS – die Hardware
Das ist nun also der Ausgangspunkt, an dem Yevgeny Murzin begann, die Stücke zusammenzufügen. Die Klangerzeugung des ANS basiert auf photooptischen Klangaufnahmen, die ähnlich der Filmherstellung sind. Diese Technik ermöglicht sowohl das Abbilden einer Wellenform als Bild, sowie auch die Erzeugung einer Wellenform aus dem Bild und nicht zuletzt die Fähigkeit, Klänge aus frei gezeichneten Wellenformen zu synthetisieren.
Das Kernstück des ANS ist dabei ein photooptischer Generator, der aus fünf rotierenden Glastellern bestand, auf denen jeweils 144 von Hand gezeichnete Wellenformen, sogenannte „Phonogramme“, aufgebracht waren. Durch diese wird dann ein heller Lichtstrahl auf ein photovoltaisches Element (wie bei einer Solarzelle) projiziert und dieses erzeugt als Resultat eine Spannung in Relation zum Wellenformverlauf auf dem Glasdiskus. Für wen es bisher noch nicht skurril genug war, es geht noch mehr. Die Programmierung oder Kodierung der Komposition erfolgt dann auf einer Glasplatte, der „Score“, die mit schwarzem Mastix, einer semiflüssigen, nicht-trocknenden Gummimasse bestrichen war, in die dann (per Stift) die Komposition eingeritzt wurde. Fehlerkorrekturen und Änderungen konnten per Zuschmieren der betreffenden Stellen augenblicklich gemacht werden. Dabei sind alle Y-Positionen einer „Zeichnung“ die Tonhöhe und die X-Positionen definieren die Tonlänge.
Unter dieser Glasplatte wurde dann eine Lesekopfleiste aus 20 Photozellen vorbeigeführt, die auf das duchfallende Licht reagierten und in 20 Verstärker mit Bandpassfiltern eingespeist wurden. Der mechanische Vorgang der Abtastung ist dabei ähnlich wie bei einem Fotokopierer. Auf diese Weise konnte der ANS-Synthesizer Klänge in einem Umfang 720 Tonhöhen über 10 Oktaven wiedergeben.
Virutal ANS 3
ANS 3 Bevor wir zur eigentlichen Bedienung kommen, die sich nur rudimentär vom Original unterscheidet, hier noch die Unterschiede der Erweiterungen zur unerreichbaren Hardware: Die App bietet eine unbegrenzte Anzahl an Tongeneratoren, d. h. Zeichnungen auf der „Score“ und es ist kein Mastix erforderlich, trotzdem kann im Sonogramm-Editor das Spektrum gleichzeitig eingezeichnet und gespielt werden. Im Gegensatz zum Original gibt es aber nur ein 16-faches Undo.
Eine beliebige WAV-Datei oder Aufnahme vom internen Mikrofon kann in ein Sonogramm umgewandelt werden und jedes PNG-, JPEG- und GIF-Bild kann in ein Sonogramm umgewandelt werden. Dazu kommen nun deutlich mehr Funktionen und Verbesserungen im Vergleich zur ANS 2-Version, wie MIDI-Mapping, Unterstützung der Files-App, USB & Bluetooth-Tastatur, ein neuer Modus mit polyphonischem Synth und Echtzeitparametern, neue Pinsel- und Ebenen-Modi, Auswahl der Farbpalette und bis zu 256 Pixel pro Takt und mehr.
Wie bedienst sich der ANS3 denn nun?
Zuerst einmal gibt es die „Score“, eine XY-Matrix, bei der vertikal die Tonhöhen angeordnet sind und horizontal die Zeitachse. Die Timeline wird in Pixel pro Takt angegeben und reicht von 1 Pixel/Takt, das was je nach Bildgröße mehrere tausend Takte sein kann und 256 Pixel/Takt, was dann eben einem 256tel der Bildgröße entspricht.
Die Score-Größe bzw. Bildgröße wird in den Projekteinstellungen festgelegt und reicht von 64 x 64 Pixel bis theoretisch der Arbeitsspeicher des iPads (2 bis 4 GB) voll ist. Bei 118.000 Pixeln habe ich dann aufgehört zu wischen. Zusätzlich lässt sich aber auch noch die BPM-Zahl, die Oktavenanzahl und auch die Anzahl der Noten pro Oktave (bis 120) festlegen.
Der klangerzeugende interne Synthesizer bietet die Möglichkeit, Teiltöne auslassen und damit definiertere Klänge zu erzeugen, denn je mehr Informationen sich in einem Bild befinden, desto mehr nährt sich der Klang dem Rauschen, wie bei jeder Komposition. Außerdem bietet der Synthesizer noch einen Loop mit Überblendung der Loop-Begrenzungen und eine Freeze-Funktion. Mit ANS3 können nämlich nicht nur Klanglandschaften gemalt werden, sondern er kann auch tonal per MIDI gespielt und gesteuert werden.
Dann beginnt man zu zeichnen. Dafür stehen Freihandstifte, benutzerdefinierte Pinsel und geometrische Formen mit und ohne Farbgradientenverlauf zur Verfügung. Es kann nicht nur unabhängig in mehreren Zeichenebenen gearbeitet werden, sondern auch über diverse Einstellungen festgelegt werden, wie diese Ebenen sich farblich beeinflussen, wenn sie sich überlagern. Auch die Ebenenanzahl scheint nur vom Speicherplatz des iPads begrenzt zu sein (über 100). Mit dem Zwei-Finger-Zoom kann dann sehr genau gearbeitet werden.
Wobei, ich rede immer von Farben, dabei nutzt Virtual ANS 3 tatsächlich nur die Helligkeitsinformationen der grafischen Darstellung. Die schöne Regenbogenfarbendarstellung ist leider nur Show.
Außerdem gibt es noch ein Werkzeug zum Ausschneiden und Einfügen von Bildinhalten mit zusätzlich anwendbaren Effekten, die bestimmen, wie sich eingefügten Bildinhalte mit eventuell darunterliegenden Bildinhalten mischen.
So malt man sich dann sein Frequenzspektrum zurecht. Allen, die in den letzen 20 Jahren ein Bild am Computer bearbeitet haben, sollten damit keine Probleme haben.
Schließlich gibt es noch das Projektmenü, über das auch der Import von Bildern und der Export von Audiomitschnitten erfolgt. Die zu importierenden Bilder müssen dabei erst per Dateien-App in das Verzeichnis von Virtual ANS kopiert werden. Die App unterstützt aber auch einen WIFI-HTTP-Server innerhalb eines lokalen Netzwerks.
Die Sonogramme können auch im Phonopaper-Format exportiert werden. Phonopaper ist eine andere App von Alexander Zolotov, die in Echtzeit Bilder von speziellen 2D-Audio-Barcodes in Sound und Sprache umwandelt, ähnlich wie bei einem QR-Code. So lassen sich z. B. Bücher mit Audiobeispielen ergänzen oder Sprachnachrichten per Postkarte verschicken.
Als Handbuch gibt es leider nur eine englischsprachige HTML-Datei auf der Homepage von Alexander, die ebenfalls nur das wesentlich abdeckt.
Audiobeispiele
SAWTOOTH
VOICE
BELL
VOICE4
AMAZONA
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Vielen Dank für den tollen Bericht, das klingt – im wahrsten Sinne des Wortes, bzw. des Tones – ausserordentlich spannend. Und spätestens bei dem „magischen“ Namen Andrei Tarkovsky war mir klar, das muss ich testen ;-)
@liquid orange Gerne :) ja, Tarkovsky (Tarkowski) hat auch meinen Blick auf „FIlm“ grundlegend erweitert.